Aber diese Situation war nicht so wie früher. Ljuba hielt sich zurück. Ihre Lippen zitterten und ihr lief eine Träne die Wange hinunter. Sie betrachtete Thomas und ihr Blick wanderte von unten nach oben... ihr Blick bat ihn wortlos um Hilfe.
„Es ist meine Schuld! Bitte bestrafen Sie mich nicht, Herr Offizier! Meine Mutter ist krank!... Sie braucht... mich... trinken...“ Ljuba fand nur mit großer Mühe die nötigen Worte.
Nach einer kurzen Pause sagte sie den Satz, den sie sich schon seit langem überlegt hatte: „Und... ich liebe (S)ie...“
„Ich liebe meine Mutter auch.“
„Ich liebe Sie... verstehen Sie mich? Wie heißen... Sie?“
„Ich?“, Thomas wunderte sich über diese Frage, „Für dich immer noch Herr Offizier! Jetzt noch mal richtig!“, befahl Thomas.
Ljuba antwortete nichts. Sie stand vor Thomas wie ein Kind, das bei etwas Bösem ertappt worden war und schaute zu Boden.
„Wer ist dein Vater?“, Thomas fragte so spontan, dass er selbst nicht genau wusste, warum er nachfragte.
„Er ist Polizist“, antwortete Ljuba.
Die Situation war jetzt weniger angespannt. Zum ersten Mal kam es Ljuba in den Sinn, dass der Job des Vaters doch nicht so verkehrt war.
„Name?“, fragte Thomas kurz wie in einem Verhör. Ljubas Antwort nahm ihm ein wenig seiner Skepsis, die er allen Einheimischen gegenüber empfand.
„Kraiko“, antwortete Ljuba weiter.
„Sehr schön... Du wohnst hier um die Ecke?“, fragte er.
Ljuba nickte.
„Ich begleite dich“, bot Thomas an.
Sie gingen schweigend weiter. Es war nicht sehr weit. Unterwegs gingen ihnen aber sehr unterschiedliche Gedanken durch den Kopf...
Ljuba dachte: „So eine Überraschung! Er begleitet mich nach Hause! Ich fühle mich, als ob ich Flügel hätte... So könnte es immer sein. Was werde ich zu Hause sagen? Begleitet er mich bis ins Haus?“
Thomas hingegen: „Zum Teufel, es ist so was von kalt hier draußen und dann überschüttet mich dieses Mädel noch mit Wasser! Jetzt bin ich wieder nüchtern... Zum Teufel, soll Werner doch mit seinem russischen Weib zusammen leben! Was sieht er bloß in ihr, dass er nicht mehr mit seinem Kameraden trinken will?... Ich sah das Weib und gucke jetzt auf dieses Gör... Von mir aus, können alle russischen Weiber zum Teufel gehen! Es stimmt, dass sie Untermenschen sind. Dieses Gebrabbel, das sie Sprache nennen, es ist kein Vergleich zur Kultur der deutschen Sprache... Moment mal...“
„Wo hast du Deutsch gelernt?“, Thomas fiel aus seinen Gedanken. Das war ihm vorher nicht wirklich aufgefallen.
„In der Schule gelernt habe... Das ist mein Haus, hier wohne ich...“, zeigte Ljuba.
„Das Haus gehört nicht dir!... Alles hier gehört dem Großdeutschen Reich! Ist das klar?“
„Richtig...“, Ljuba antwortete ohne Widerspruch, „Herzlich willkommen!“
Thomas hielt einen Moment inne: „Ist sie wirklich so naiv?“ „Hast du was zu trinken?“, Thomas blickte ruhig auf die junge Frau. Ljuba nickte und zeigte auf den zu einem Drittel gefüllten Wassereimer.
Thomas lächelte: „So ein dummes Mädchen“, dann stellte er klar: „Nein. Ich meine was Vernünftiges...“
„Ah, ich verstehe. Kommen Sie bitte herein...“, Ljuba öffnete einladend die Tür.
Sie traten durch den dunklen Vorraum ins Wohnzimmer. Erst hier nahm Ljuba die Streichhölzer und zündete die Öllampe an, die auf einem großen Holztisch stand. Sie gab ein angenehmes, nicht zu starkes Licht, das aber ausreichte, um die Gegenstände im Zimmer zu erkennen.
Thomas trat zum ersten mal als Gast und nicht mit dem Recht des Okkupanten in ein Haus ein. Es war eine seltsame Situation für ihn. Obwohl er versuchte, seine Unbeholfenheit nicht zu zeigen, bemerkte Ljuba sie und bot ihm einen Stuhl am Tisch an: „Ich bin... schnell wieder da!“, sagte sie betonend auf das Wort „schnell“ und ging in das andere Zimmer.
Nachdem Ljuba ihrer Mutter, die im Bett lag, eine Schöpfkelle voller Wasser zu trinken gereicht hatte, fragte sie: „Mama, geht es dir besser?“
„Ja, ein wenig. Wo warst du so lange?“, die Mutter atmete sehr schnell.
„Mama, ich erzähle es dir, aber später... Ich habe Besuch!“
„Was? Wer ist dort?“
„Mein Gast.“
„Wer ist mit dir gekommen?“, Ljubas Mutter versuchte, sich aufzurichten. Sie schaute ihre Tochter mit großen Augen an.
„Psst... Mama, hör mir zu“, sagte Ljuba flüsternd, „Da ist ein deutscher Offizier... Bitte, stehe nicht auf... Danach... Ich komme gleich... Er ist im Wohnzimmer. Aber du bleibst bitte hier... Abgemacht?“, bittend sah Ljuba ihre Mutter an, und ging in den Abstellraum hinaus.
Nachdem Ljuba das Wohnzimmer verlassen hatte, betrachtete Thomas das Zimmer sehr aufmerksam.
Es war sehr einfach eingerichtet und nicht besonders hoch. Der Raum war rechteckig und hatte an der Stirn und der rechten Wand je zwei Fenster, in denen kleine, bestickte Gardinen hingen. Links stand ein großer weißer Ofen. Unter einem der Fenster stand an der Seitenwand eine Bank, die bis in die Ecke des Zimmers reichte. Vor der Bank stand der große Esstisch aus Holz, auf dem eine Tischdecke lag. Zum Zimmer hin standen vor dem Tisch zwei Stühle. In der Ecke hing zwischen den Fenstern, fast unter der Decke, eine große Ikone, die von einem gestickten Schal bedeckt war. Thomas blickte nach links auf den großen Ofen. Er zog seinen Offiziersmantel aus, hängte ihn über einen der Stühle und schob ihn vor den Ofen, um den Mantel trocknen zu lassen.
Thomas fühlte sich etwas unruhig, wie ein ungebetener Gast. Er schaute mit Interesse auf die Kuckucksuhr, die seitlich vom Küchentisch an der Wand hing: „Na so was! Selbst am Arsch der Welt findet man deutsche Erfindungen! So ein Wunderding hängt auch bei uns zu Hause an der Wand. Die Mutter konnte nicht genug davon schwärmen, wie sie das Ding aus Freiburg mitgebracht hat.“ Der Offizier erblickte das Bild einer älteren Frau mit Kopftuch, das rechts neben der Uhr hing. Hatte er sie nicht schon mal gesehen? Thomas war sich nicht sicher.
In diesem Moment kam Ljuba stolz mit einem Tablett zurück, auf dem Brot, Speck und eine Flasche selbstgebrannter Wodka mitsamt zwei Gläschen standen.
„Wie naiv sie ist!“, dachte der Offizier bei ihrem Anblick wieder.
„Fräulein, du trinkst mit mir? Dann... Zum Wohl!“, Thomas schenkte den Wodka ein und hob sein Glas. Allerdings stieß er nicht mit Ljuba an. Während des Essens betrachtete Thomas lange die junge Frau. Ljuba sah verlegen zu Boden und überlegte, wie sie ihm anbieten könnte, bei ihr zu übernachten.
Nach kurzer Zeit schaute der Offizier auf seine Uhr. Es war schon sehr spät geworden. Eigentlich wollte er noch nicht aufbrechen. Gegen seinen Willen erhob sich Thomas aber langsam von seinem Stuhl und nahm den Uniformmantel in die Hand.
„Herr Offizier, Sie können hierbleiben...“, sprach Ljuba schnell.
„Natürlich kann ich das... Aber ich gehe...“, er zog seinen Mantel an und antwortete, „Ich schlafe in der Kaserne“.
Als er die Tür öffnete, erinnerte sich Thomas daran, dass er dieselben Worte vor nur zwei Stunden schon zu Werner gesagt hatte, seinem Vorgesetzten, aber auch besten Freund, mit dem er seit der gemeinsamen Studienzeit befreundet war.
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