Ende September, als Ljuba und Nina fast schon alle Hoffnung nach Stepan verloren hatten, klopfte er an die Tür. Die Wiedersehensfreude nahm kein Ende. Er hatte stark abgenommen und nach seinem langen Fußmarsch fast keine Kraft mehr. Als Augenzeuge hatte er den Kampf um Kiew miterlebt. Über den Sonntag, den 22. Juni erzählte er, selbst als am frühen Morgen die ersten Bomben auf die Stadt fielen, wollte keiner wahrhaben, dass ein Krieg begonnen hatte. Das Fußballspiel wurde erst eine Stunde vor Beginn abgesagt und auf den folgenden Tag verlegt. Als dann der Spuk immer noch nicht vorbei war, wurde es auf unbefristete Zeit nach dem Sieg verschoben. Außer Stepan haben nur sehr wenige ihre Eintrittskarten an die Kasse zurückgegeben. Alle hatten die Hoffnung, dass dieser Krieg sich als Missverständnis herausstellt und nicht lange dauern wird. Keiner konnte sich vorstellen, dass dieser Krieg jeden persönlich betreffen würde.
Aus den Nachrichten erfuhr Stepan, dass das Gebiet, in dem seine Familie geblieben war, bereits besetzt ist. Er hatte keine Möglichkeit mehr, zurück nach Hause zu kommen. Erst als auch Kiew von den Deutschen genommen wurde, konnte Stepan endlich wieder zurückgehen.
Auf dem Rückweg, zu Fuß, sah Stepan überall die Spuren des Krieges.
Als er unterwegs war, begann zunächst ein leichter Regen, der immer kräftiger wurde. Stepan sah einen zerstörten sowjetischen Panzer und ihm kam die Idee, dass er vielleicht darin übernachten könnte. Als er sich dem Panzer näherte, sah Stepan die verbrannte Leiche des Fahrers. Er war nur halb aus der Maschine herausgekommen. Innen war es noch schlimmer, denn dort lagen noch weitere Tote. Stepan kroch unter den Panzer und schlief dort fest, um weitere Kräfte für den langen Weg nach Hause zu sammeln.
Sein Weg war sehr gefährlich. Nachts ging er über Felder und Auen, oder wenn sich am Tage die Möglichkeit bot, fuhr er mit jemandem zusammen auf irgend einem Pferdewagen. Ein Fremder, der alleine unterwegs war, konnte schnell verhaftet werden und ein Verhör bei der einheimischen Polizei wollte Stepan auf keinen Fall.
In der Vergangenheit war Stepan Trainer einer Fußballjugendmannschaft. Seit einem Jahr arbeitete er für die Bezirksmiliz, deshalb wusste er, was ihn erwarten konnte. Tagsüber fühlte sich Stepan wesentlich sicherer im Wald. Er konnte sich dort unter den Bäumen oder in Sträuchern hinter Zweigen und Blättern verstecken. Zu trinken gab es Wasser aus einem Bach oder aus kleinen Flüssen. Essen zu finden war ein wenig schwieriger. Aber auch hier hatte der Monat September reichlich für den Wanderer gesorgt. Manche Felder waren noch nicht abgeerntet oder es gab noch Erntereste zu finden. Für eine Person reichte es allemal. Manchmal konnte Stepan etwas eintauschen gegen Brot und andere Lebensmittel. Das Geld war schon längst ausgegeben.
Einmal im Feld sah Stepan etwas besonders Schreckliches. Es war der Rest eines kleinen Zigeunerlagers, das von deutschen Panzern überrollt und vernichtet worden war. Als er die Reste der Zigeunerwagen untersuchte, fand Stepan darin noch Lebensmittel. Die Toten hatten auch noch etwas Geld in den Taschen. Sein Gewissen erlaubte es ihm aber nicht, den Leichen Geld und Lebensmittel einfach so wegzunehmen. Als er eine Schaufel gefunden hatte, begrub er als Gegenleistung die Körper. Die meisten von Ihnen waren Kinder.
Als Nina Stepans Geschichte hörte, sagte sie ihm: „Ja, Stepan. Bei uns hier haben Juden und Zigeuner, egal ob sesshaft oder nomadisch, alle Rechte verloren. Oft werden sie selbst von Nachbarn verraten. Sara Gotlieb, die Frau deines Kollegen, hat zwei Deutsche erschossen und sich selbst getötet. Danach wurden alle Kommunisten, Juden und Zigeuner, die an dem Tag festgenommen wurden, am Stadtrand hingerichtet.“
Ljuba hörte ihrem Vater nicht wirklich zu. Immer wieder suchte sie die Möglichkeit, ihm über ihre eigenen Erfahrungen zu berichten: „Vater, und bei uns hier...“ Aber die Mutter unterbrach sie sofort: „Was ist denn? Hör mal dem Vater zu! Du darfst erst danach etwas sagen!“ Und so lief es ein paar Mal.
Als Stepan zu Ende gesprochen hatte, erzählte Nina ihm von den Veränderungen in der Stadt: „Wir haben hier eine neue Verwaltung. Die Stadtadministration besteht aus dem deutschen Kommandanten und einem Bürgermeister. Ukrainische Nationalisten, die in den Untergrund gegangen waren, begrüßten in der Stadtmitte die Deutschen mit Blumen. Heute arbeiten sie mit den Okkupanten zusammen. Aber man sieht schon, auch wenn sie jetzt noch gemeinsame Ziele haben, später werden sie unterschiedliche Wege gehen. Ihre Interessen sind einfach zu verschieden.“
Nina machte eine kurze Pause und sprach dann weiter: „Deine Stelle bei der Miliz bekam ein Nationalist, der ein Anhänger von Bandera ist. Er fragte mich sehr oft nach dir, und dass ich dir sagen soll, dass du dich bei ihm melden musst, wenn du zu Hause bist. Ich glaube, wir sollten nicht in der Stadt bleiben. Wer weiß, hier ist alles ungewiss!“
Stepan nickte. Danach blickte er Ljuba an. Seine Sorgen wollte er sich aber nicht anmerken lassen. Darum fragte er sie mit einem freundlichen Lächeln: „Na, was willst du mir Neues erzählen?“
„Das neue Schuljahr hat begonnen und die Kinder gehen wieder zur Grundschule. Mama arbeitet dort. Aus Polen kam ein Pfarrer, der die Kirche wieder eröffnet hat, aber da gehen nur alte Leute hin. Im Kino zeigen sie deutsche Filme, aber die Eintrittskarten sind viel zu teuer. Zum größten Teil gehen darum nur Deutsche hin. Ach ja, es wurde auch ein Puff für Deutsche eröffnet. Hundert hübsche Frauen haben sie eingeladen, die Leute sagen, dass mehr als dreihundert kamen.“
Der ehemalige Milizionär pfiff: „Oh, dass wundert mich nicht!“, und lächelte ironisch, „Schöne Weiber gab es bei uns schon immer!“
„Ja, noch was. Sie bieten Jugendlichen an, nach Deutschland zu gehen, um zu arbeiten. Dort kann man Geld verdienen und Karriere machen. Vater, kann ich in Deutschland studieren?“
„An der Hochschule? Was möchtest du werden?“
„Dolmetscherin. Ich denke, das ist heute wichtig. Oder Deutschlehrerin, um in der Schule zu unterrichten.“
„Gehst du zur Schule?“
„Im Moment ist die Schule noch zu. Sie ist jetzt ein Hospital. Ich spüle Geschirr dort.“
So verging eine Woche. Das Leben in der Stadt wurde immer schlechter. Stepan bekam seine Stelle nicht zurück. Die Anonymität der Stadt machte Nina immer ängstlicher. Die Nachbarn misstrauten und verdächtigten alle und jeden. Das ließ Furcht entstehen und Ungewissheit dem Nächsten gegenüber. Hinzu kam, dass sich die Strafaktionen der Deutschen und der Miliz mehrten.
Kapitel 3
Erste Begegnung
Erst zwei Jahre später, im Herbst des dramatischen Jahres 1941, kam Ljuba gemeinsam mit ihren Eltern wieder ins Dorf.
Dieser Entschluss, die Rückkehr zur Großmutter und zum Leben auf dem Dorf, fiel Ljubas Familie nicht leicht. Sie hofften aber, Hunger und Kälte leichter überstehen zu können, als in der Stadt, wo es an allem mangelte. Aber der Besetzung durch die Deutschen konnten sie nicht entgehen. Auch ihr kleines Dreihundert - Seelen - Dorf war bereits besetzt worden.
Der Weg durch den Wald war nicht ungefährlich. Dort versteckten sich immer noch Soldaten der Roten Armee, die den Kesselschlachten entkommen waren. Außerdem suchten Kommunisten und Juden im Wald Schutz vor den Deutschen und den einheimischen Nationalisten. Sie alle standen in gewisser Weise zwischen Leben und Tod. Einige dieser Verzweifelten nahmen alle Kraft und Mut zusammen und bildeten erste kleine Gruppierungen, die sich später zu großen Partisanengruppen entwickelten. Die größte Triebkraft dieser Bewegung war, dass die im Wald lebenden Menschen Nahrung und warme Kleidung brauchten. Darum hielten sie Leute aus der Stadt und Bauern aus den benachbarten Dörfern an und nahmen sich, was sie brauchten. Auch kleine Gruppen deutscher Soldaten wurden überfallen, um die Trophäen zu bekommen.
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