Erst später sah sie, dass kein Kreuz auf dem Turm war. Das überraschte Ljuba.
„Wir haben keine Kirche mehr, heute ist dort die Mühle.“ Die betagte Frau sprach jetzt noch leiser und mit dem Blick auf das Gotteshaus. Dann sah Ljuba, dass am Eingang der Kirche viele Säcke mit Korn aufgestapelt waren. Das Mädchen war neugierig geworden und lief schnell die Stufen zur geöffneten Tür hoch. Aus der früheren Kirche war die ganze Einrichtung bereits weggeräumt. Nur undeutlich konnte man durch den Mehlstaub noch an den Wänden die Gemälde der Heiligen erkennen. Ljuba wollte zur Ecke gehen, wo früher ihre Bank gestanden hatte.
„Na, du Pionier, was machst du hier? Besuchst du deine Oma?“, fragte ein großer Mann mit Akne im Gesicht.
Er sprach sie so überraschend an, dass Ljuba zur Wand zurückwich. Mit ihrem Fuß trat sie auf ein kleines Stück Leinwand, das von einer zerstörten Ikone auf dem Fußboden liegen geblieben war. Verängstigt durch das plötzliche Erscheinen des fremden Mannes hob sie den Fetzen schnell auf und sprang flink durch die geöffnete Tür hinaus.
Oma Petrowna sagte, dass der Mann Onkel Bogdan, der Kolchosvorsitzende sei und sie keine Angst vor ihm zu haben brauche. Er wäre gut und hilfsbereit. Onkel Bogdan versuche sogar den Leuten aus der Stadt zu erklären, dass man die Ikonen in Museen noch benötigen würde. Aber nein, alles wurde ins große Feuer geworfen. Und den Priester, Pater Dimitrij, den haben sie hinter dem Zaun zum Kirchhof erschossen.
Ljuba wischte den Staub von der Leinwand. Auf dem Fragment sah sie in die großen, unvergesslichen Augen eines Mädchens. „Die heilige Vera!“, flüsterte Ljuba. Es war ein Stück von ihrer Lieblingsikone, auf der die drei heiligen Mädchen dargestellt waren:
Vera, Nadeschda und Ljubov.
Früher, als Ljuba noch sehr klein war, war sie sehr stolz darauf, dass es auf dieser Ikone drei schöne Mädchen gab, aber das schönste von ihnen war das jüngste: Ljubov.
Den vollen Namen konnte Ljuba damals noch nicht aussprechen, darum zeigte sie mit ihrem Fingerchen darauf und sprach: „Ljuba... Ich bin auch Ljuba!“
Nun hielt sie den Rest mit der Abbildung von Vera in den Händen. Vera, das bedeutet Glauben.
Ljuba fragte sich, ob sie wirklich an sich selbst glauben würde. Sie war doch Pionier, oder glaubte sie tief im Innern doch an Gott? Ihre Gefühle waren zwiespältig und insgeheim spürte sie, dass der Allmächtige das Dorf für die entweihte Kirche bestrafen würde.
Die ersten Jahre, in denen der Sozialismus aufgebaut wurde, waren für alle sehr schwer. Trotzdem konnten sich die Menschen nicht vorstellen, dass dieser Wandel nicht von Dauer sein sollte und schon gar nicht, dass in der Nacht zum 22. Juni 1941 deutsche Divisionen ohne Kriegserklärung auf breiter Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer in die Sowjetunion einmarschieren würden. Tausende Panzer, Artilleriegeschütze und Millionen Soldaten überrannten mit großer Unterstützung der Luftwaffe die Grenze der UdSSR. Viele Grenzsoldaten der Roten Armee versuchten vergeblich ihre Posten dem Feind nicht preiszugeben und ergaben sich somit ihrem Schicksal: entweder Tod, oder Einkesselung. Die deutschen Panzer umfuhren zielstrebig stark bewaffnete Orte, um möglichst schnell strategisch wichtige Punkte einzunehmen und auch Versorgungslinien der Roten Armee zu unterbrechen. Der Plan ging auf und viele Divisionen der Roten Armee verloren dramatisch an Stärke. Tausende Flugzeuge der Luftwaffe bombardierten die großen, strategisch bedeutenden Städte, darunter war auch die sehr schöne, historische Stadt Kiew - die Hauptstadt der Ukrainischen Sowjetrepublik.
Ljuba wurde von einem ungewohnten Brummen in der Luft wach. In der Ferne hörte sie es donnern, als ob ein Gewitter aufziehen würde. Trotzdem konnte sich die junge Frau nicht vorstellen, was vor sich ging. Draußen war es schon hell, durch die zugezogenen Gardinen schienen die ersten Sonnenstrahlen. Als sie die Vorhänge zu Seite zog, strahlte ihr ein wundervoller Morgen entgegen. Von Regen oder Gewitter war weit und breit keine Spur. Ljuba schaute aus dem Fenster. Die Menschen, die draußen auf der Straße unterwegs waren, hatten es sehr eilig. Sie wunderte sich, dass an einem Sonntagmorgen so viele Soldaten und Offiziere auf der Straße waren. Immer wieder hörte man laute Befehle. Fast schien es, dass sich die Armee aus ihrer Stadt zurückziehen würde.
Nina, Ljubas Mutter, stürzte ins Zimmer: „Töchterchen, es ist Krieg! Die Deutschen haben uns überfallen!“
Mit Augen voller Verzweiflung schaute sie ihre Tochter an und suchte ihre Unterstützung: „Was sollen wir bloß machen? Dein Vater ist gestern nach Kiew gefahren, um sich die Eröffnung des neuen Fußballstadions und das Spiel von Dynamo Kiew anzuschauen. Er und sein „historisches Ereignis“. Und wir, was sollen wir jetzt machen? Wir bräuchten ihn doch hier, aber statt dessen ist jetzt alles ungewiss. Was ist nur mit ihm und was wird aus uns?“
Nina setzte sich auf die Kante von Ljubas Bett. Sie war so verängstigt, dass ihre Knie zitterten und sie nicht mehr stehen konnte.
„Mama, es wird schon gut gehen, bleib ruhig. Vielleicht sind die Deutschen nicht so schlecht, wie du denkst. Und Vater kommt bestimmt zurück, du wirst es sehen. Er lässt uns nicht allein“, Ljuba umarmte ihre Mutter fest.
Ljubas Mutter Nina sah sehr jung aus. Sie trug ein leichtes Kleid aus Seide mit kleinen Tupfen und eine dünne Strickjacke, die nur mit drei Knöpfen geschlossen war. Nina war schon fünfunddreißig Jahre alt, aber Mutter und Tochter konnten auch für Geschwister gehalten werden, so ähnlich sahen sie sich. Bekannte sagten oft, dass Ljuba eine Kopie ihrer Mutter sei. Aber anders als ihre Tochter trug Nina keine Zöpfe mehr. Als Stadtfrau wollte sie lieber einen modischen Haarschnitt. Sie arbeitete als Lehrerin in einer Grundschule und hatte jetzt gerade Sommerferien.
Nina trat ans Fenster: „Siehst du, Ljuba, die Rote Armee zieht aus der Stadt ab. Sie ist sogar so in Eile, dass die Offiziersfamilien nicht mitkommen dürfen. Ich habe es selbst gesehen, in der Sowjetskaja Straße, wo sie wohnten, weinten die Frauen und Kinder beim Abschied.“
Die Kreisstadt, in der Ljubas Familie wohnte, wurde ohne Kampf aufgegeben. Die vielen Männer, die noch nicht zum Militär einberufen waren, blieben im Ort. Schon am nächsten Tag rollten über die mit Steinen gepflasterten Straßen die Motorräder und Lastwagen mit Soldaten der deutschen Armee. Am Rathaus, wo vor nur zwei Jahren die Rote Fahne mit Symbolen von Hammer und Sichel in der oberen linken Ecke den Platz gefunden hatte, an genau dieser Stelle hing jetzt eine andere rote Fahne. Nur in der Mitte sah man einen weißen Kreis, der ein schwarzes Hakenkreuz umrahmte.
In den folgenden drei Monaten unter der neuen Herrschaft veränderte sich in der Stadt alles. Gesetze wurden durch neue, völlig gegensätzliche ausgetauscht. Der Versuch der ukrainischen Nationalisten an die Macht zu kommen, scheiterte. Die Bewohner teilten ihre Nachbarn ganz öffentlich nach ihrer Nationalität in Gruppen ein und nicht nur hinter dem Rücken, wie es früher manchmal vorgekommen war.
„Polacken, Juden und Moskowiten sind deine Feinde“, las Ljuba auf einem Plakat.
„Was soll das? Das kann doch nicht wahr sein! Was für ein Irrsinn! Lech Krasuzki ist ein Pole, Ella Katz eine Jüdin und Nina Iwanowa eine Russin. Sind sie nicht mehr meine Freunde?“ Ljuba dachte über den Spruch auf dem Plakat nach.
Hier und da hörte man immer wieder ein neues deutsches Wort: Blitzkrieg - womit ein sehr schneller Krieg gemeint war. Schon nach ein paar Wochen hatte die deutsche Armee Kiew eingenommen. Überall sprach man davon, dass dies die Strafe des Himmels sei und dass die Deutschen bis nach Moskau marschieren würden...
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