1993 war das entscheidende Jahr in meinem bisherigen Leben. Ich hatte meine Stelle bei einer Bank gekündigt und einen neuen Vertrag bei einer anderen Bank unterschrieben, bei der ich erst in zwei Monaten anfangen musste. Ich hatte also kurzfristig Zeit, rief ein Reisebüro an, das Trekkingtouren für kleine Reisegruppen organisierte und erkundigte mich, wohin denn ihre Reisen im Monat Juli so hinführten. Hätten sie Ecuador gesagt, hätte ich Ecuador gebucht, hätten sie Papua Neuguinea gesagt, wäre ich dorthin mitgegangen.
»Kirgistan», antwortete der Reisebüroangestellte.
«Wo ist das?», fragte ich.
Er erklärte mir, dass Kirgistan eine aus der Sowjetunion hervorgegangene selbstständige Republik an der Grenze zu China sei. Ich buchte. Erst auf den zweiten Blick habe ich mich in dieses Land verliebt. Und zwar total. Ich fing an, Bücher von Tschingis Aitmatow zu lesen, dem wohl bekanntesten Kirgisen der Welt, dessen wunderbar geschriebene Romane in 80 Sprachen übersetzt wurden. Die Natur Kirgistans und die mit dieser Natur so sehr verbundenen Kirgisen hatten mein Herz erobert. Ich hatte noch nie einen so intensiven Kontakt mit der Bevölkerung eines Landes wie mit den gastfreundlichen Bewohnern Kirgistans. Obwohl ich ihre Sprache nicht kannte. Aber das konnte man ja ändern…
Ich fragte meinen Nachbarn mehr aus Spass als aus Ernst, ob er nicht jemanden in unserem 2000-Seelen-Dorf kenne, der russisch spreche. Er hatte tatsächlich gehört, dass eine Russin in unserer Gemeinde wohnt! Ich rief sie an und suchte sie auf. Wir wurden Freundinnen und zwei Jahre lang verbrachte ich fast jede Woche einen Abend bei ihr und sie brachte mir die äusserst schwierige russische Sprache bei. Plötzlich lernte ich immer mehr Russen kennen und Schweizer, die russisch sprachen; es war, als ob ich alles, was mit Russland zu tun hatte, geradezu anzog!
Ich verschlang tonnenweise Bücher, die von Zentralasien und den Samaniden, Karachaniden, Gasnawiden, Seldschuken, Choresm-Schahs, Sultanen, Emiren, Khans und wie sie alle genannt wurden, handelten und fing an, mich für Moscheen, Medressen, Mausoleen und überhaupt den Islam zu interessieren.
Der Orient mit seiner spannenden Geschichte zog mich so in seinen Bann, dass ich mehr wollte, als mich in eine gemütliche Ecke zu setzen, Märchen aus 1001 Nacht zu verschlingen und beim Geruch von Räucherstäbchen nach einer Fata Morgana Ausschau zu halten. Was lag schlussendlich naheliegender, als das Land zu besuchen, das nur so von Bauwerken islamischer Architektur wimmelt?
1994 fuhr ich gleich zweimal nach Usbekistan. Jawohl, fuhr. Mit dem Zug. Als ich an meinem Arbeitsplatz erzählte, dass ich zwar einen Flug nach Moskau gebucht hatte, jedoch von dort mit der Eisenbahn nach Zentralasien fahren werde, fragte mein Chef: »Gibt es dort, wo du hinwillst, keinen Flughafen?»
Ich beabsichtigte, mich Zentralasien langsam zu nähern und genoss es ausserordentlich, festzustellen, wie der Prozentsatz der Menschen, die Schlitzaugen haben und offensichtlich der kasachischen, turkmenischen, kirgisischen, tatarischen, uigurischen oder sonst einer asiatischen Nationalität angehörten, immer höher wurde, je mehr wir uns Usbekistan näherten. Und was sicher auch eine grosse Rolle spielte, war die Tatsache, dass ich in diesem Zug die einzige westliche Touristin war! Ich hatte touristisches Neuland entdeckt und fühlte mich ein bisschen wie die Reisepioniere der letzten Jahrhundertwende. So konnte ich mir ein wenig vorstellen, wie es Ella Maillart, Alexandra David-Néel oder Freya Stark auf ihren ersten Abenteuerreisen zumute gewesen sein muss!
Ein langer Wunsch tief in mir meldete sich immer stärker: Ich wollte eine ganz lange und intensive Reise unternehmen. Mit meinem Lieblingsland Kirgistan als Mittelpunkt. Ich wollte auf der legendären Seidenstrasse reisen und mich langsam wie Marco Polo Zentralasien nähern.
Im frühesten Hebräisch waren die Worte «Kaufmann» und «Reisender» synonym. Soldaten, Kuriere, Staatsmänner, Gelehrte, Studenten, Bettler, Pilger, Verbrecher und Mönche waren es, die man auf den Strassen antraf, vor allem aber Kaufleute, die Gewürze, Myrrhe, Gold, Seide, Waffen, Perlen und Safranziegel herbeischafften. Die Reise als Abenteuer zum Selbstzweck war bis tief ins 18. Jahrhundert hinein unbekannt.
Ich wollte ein Zeitverschwender sein mit dem Luxus der Langsamkeit. Meine Devise: Der Weg ist das Ziel! Ich wollte das wichtigste Gepäck auf meine Traumreise mitnehmen: Die Musse und die Zeit. Faktoren, die das Reisen überhaupt ausmachen und die im immer rascheren Wandel unserer Welt vielfach verlernt worden sind. Ich wollte verlorengegangene Werte wie Musse, Zeit und Stille neu entdecken, die in der Hektik der Moderne untergegangen sind. Ich wollte eigene Leistungsgrenzen und Bedürfnisse entdecken, mir selbst begegnen, mich schonungsloser unter die Lupe nehmen und eine eigene Lebensphilosophie finden.
Wer sich beim Reisen nicht verändert, hat den Sinn des Reisens nicht verstanden. Die Veränderung, die neue Horizonte bringt, ist der ganze Gewinn. Vieles, was mir einst wichtig erschien, verlor an Wert und andere Dinge, die ich früher nicht einmal wahrgenommen hatte, gewannen an Bedeutung.
Und vor allem, was den Islam betrifft, mit dem ich mich seit meinem ersten Aufenthalt in Kirgistan auseinander gesetzt habe, wollte ich lernen, anerzogene Meinungen zu überprüfen und beginnen, vertraute Verhaltens- und Denkmuster in Frage zu stellen. Die Massenmedien sind auf ihrer Suche nach neuen Feindbildern seit einigen Jahren im arabischen Raum fündig geworden. Wie schon oft seit der Zeit der Kreuzzüge gilt das Morgenland dem Abendland als akute Bedrohung – und umgekehrt übrigens auch das Abendland dem Morgenland. Weil sich aber hier wie dort in dem Meinungsgetöse nur die lautesten Propagandisten, nicht aber die leisen Denker Gehör verschaffen, mutiert in der kollektiven Vorstellung des Westens jeder Moslem zum unberechenbaren Fanatiker. Eine Freundin erzählte mir, dass sie während des Golfkrieges von 1990 in der Bevölkerung Geld gesammelt hatte, um Babymilch zu kaufen, welche sie mit Konvois nach Bagdad schickte. Frauen haben ihr viel öfters Geld gespendet als Männer. Diese haben teilweise geäussert, dass jedes irakische Baby, das an Unterernährung sterbe, später einen irakischen Soldaten weniger ergäbe! In fast jedem Zeitungsartikel über Bürgerkriege in islamischen Ländern wird meistens eine Frau, die in einen Tschador gehüllt ist oder ein Mudschaheddin , mit dem Koran in der einen und einer Kalaschnikov in der anderen Hand, abgebildet…
Nachdem ich monatelang allen Freunden und Bekannten mit meiner Suche nach einem geeigneten Reisepartner in den Ohren lag, beschloss ich im Herbst 1995 per Inserat im Globetrotter-Magazin einen aufzutreiben: «Suche interessanten und aufgeschlossenen Reisepartner für sechs bis zwölf Monate. Bin 30, w., spreche fliessend russisch und möchte auf den Spuren Dschingis Khans und Timur Tamerlans Zentralasien bereisen: Seidenstrasse, Usbekistan, Kirgistan, Kashgar, Karakoram-Highway und nachher bestimmst Du, wie’s weitergeht. Die Reise ist das Ziel!»
Aus mehreren Kandidaten habe ich mich nach diversen Blind-Dates für einen mir seriös erscheinenden Reisepartner entschieden. Thomas war eine Fehlentscheidung. Langweilig und introvertiert. Aber wenn ich meinen grössten Wunsch, eine lange Traumreise zu machen, verschoben hätte, bis mein Traumprinz auftaucht, wäre ich vielleicht immer noch nur am träumen…
Lebenskunst ist nicht zuletzt die Fähigkeit, auf etwas Notwendiges zu verzichten, um sich etwas Überflüssiges zu leisten.
Vittorio De Sica
Jordanien: Beduinen und Wüstenschlösser
1Anfang März 1996. In Amman regnet es in Strömen. Trotzdem machen wir einen Spaziergang durch die Innenstadt zum römischen Amphitheater. Das Wasser läuft nirgends ab und riesige Pfützen bilden sich überall. Autos bespritzen uns von Kopf bis Fuss. Mit lautem Gehupe schleicht die Blechlawine durch die verstopften Strassen. Viele Männer haben das schwarz-weisse oder rot-weisse Arabertuch ( Mandil), das mit dem schwarzen Ring ( Agal ) gehalten wird, um ihren Kopf geschlungen, alte Männer haben darunter noch das Dagiya genannte Moslemkäppchen aufgesetzt. Die Frauen tragen ein Kopftuch, sind aber ansonsten recht modern angezogen. Wir sehen sehr viele teure Autos, vor allem Mercedes. Von den ungefähr eineinhalb Millionen Einwohnern Ammans sind nur knapp zwei Drittel Jordanier, 600’000 sind Palästinenser. In Jordanien leben neben 500’000 Ägyptern und 170’000 Syrern auch Pakistanis, Inder und Inderinnen, Menschen aus den Philippinen, Sri Lanka, Bangladesch und andere. Diese machen vor allem die bei den Einheimischen nicht so beliebten Arbeiten und verdienen dabei trotzdem viel mehr als daheim. Der Durchschnittslohn beträgt etwa 150-200 USD pro Monat. Krankenversicherungen und Altersrenten gibt es, Arbeitslosengeld jedoch bekommt niemand. Die meisten Ausländer arbeiten sowieso illegal.
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