„Ich verstehe.”
Einen Moment lang schwiegen sie beide.
„Wartet eigentlich jemand zu Hause auf dich?”, fragte Lucius schließlich. „Ich meine, eine Frau, oder …”
„Nein, niemand.”
„Hast du denn noch Familienangehörige?”
„Nur meinen Vater. Ich habe bei ihm gewohnt, bevor ich mich den Rebellen anschloss.” Er lächelte schief, aber das war in der Dunkelheit sicher nicht zu sehen. „Ausgerechnet in der Kaisergasse in Damascurdia. Was für eine Ironie … Meine Mutter ist vor drei Jahren gestorben. Ich hatte einen älteren Bruder, aber der lebt schon lange nicht mehr. Eine schwere Lungenentzündung, in einem der harten Winter. Ich wäre damals auch fast draufgegangen.”
„Oh … das tut mir leid.”
„Danke. Wie gesagt, es ist schon lange her. Und wie ist es bei dir? Wartet jemand auf dich?”
„Nein, auch nicht.” Lucius zögerte ein weiteres Mal. „Ich hatte einen Gefährten, aber das war vor meiner Soldatenausbildung. Wir haben uns aus den Augen verloren, denn Naevius ist nach Damascurdia gegangen, um dort an einer Akademie zu studieren und ich blieb in unserer Heimatstadt Calpanea. Meine Mutter und ihre Eltern leben auch dort. Ich habe zwei Schwestern, die eine ist verheiratet und kümmert sich um die Kinder, die andere ist Gelehrte geworden, sie erforscht die Natur, gemeinsam mit ihrem Mann. Als ich das letzte Mal von ihnen hörte, wollten sie auf die Insel Nitrisestra, um dort eine seltene Heilpflanze zu finden.”
„Ich verstehe.” Severin lag eine Frage auf der Zunge, allerdings war das eine sehr persönliche und sie beiden kannten sich gerade mal wenige Stunden. Andererseits, Lucius hatte ihm verraten, dass er einen Gefährten gehabt hatte, was wiederum auch ziemlich persönlich war. Außerdem gab es hier drinnen kaum etwas anderes zu tun, als sich voneinander zu erzählen. „Bevorzugst du Männer?”, fragte er deshalb.
„Du bist ziemlich neugierig.”
Severin lachte. „Du hast damit angefangen, als du gefragt hast, ob jemand zu Hause auf mich wartet. Und als du deinen Gefährten erwähnt hast.”
„Also gut. Ja, wenn du es genau wissen willst.”
„Das geht mir auch so. War schon immer so, seit ich ein Jugendlicher war.”
„Aber du hast nie jemanden gefunden, der …”
„Ja und nein. Ich habe gelegentlich mit anderen das Bett geteilt. Aber mehr ist nie daraus geworden. Und mein Vater liegt mir immer noch in den Ohren, wann ich endlich heirate und Kinder in die Welt setze.”
„Ah, ein Traditionalist?”, fragte Lucius und klang nicht überrascht.
In ganz Ithyrios wurden Beziehungen zwischen Männern und zwischen Frauen geduldet. Allerdings erwarteten die meisten Familien, dass sich ihre Söhne und Töchter den Traditionen beugten und irgendwann doch heirateten und Kinder bekamen, schließlich ging es nicht selten um ein Erbe, das weitergegeben werden sollte. Für manche Leute bildeten dann Dreiecksbeziehungen einen Ausweg – Eheleute, die eine Beziehung mit einer weiteren Person eingingen. Severins Vater war in der Tat traditionell eingestellt, kein Wunder, dass er noch immer darauf hoffte, dass sein Sohn heiratete.
„Genau, die Familie muss fortgeführt werden. Aber ich habe mich noch nie zu Frauen hingezogen gefühlt”, sagte er nun. „Ich schätze sie durchaus als Gesprächspartnerinnen, als Kampfgefährtin oder in anderen Professionen und natürlich als Mütter, oder was sie sonst für Aufgaben in ihrem Leben übernehmen wollen. Aber ich möchte mit ihnen nicht das Bett teilen. Ich habe es versucht, doch es hat mir nicht gefallen.”
„Da geht es dir ähnlich wie mir”, sagte Lucius. „Erzähl mir etwas von den Vetrusiern. Sind sie nicht aus dem Norden eingewandert?”
„Ja, das stimmt. Vor etwa sechzig Jahren gab es in der Heimat meines Volkes – die Vjætrusor, wie wir uns selbst nennen – starke Kälteeinbrüche, die monatelang anhielten. Bald gab es kein Wild mehr zu jagen und das Getreide konnte in der eisigen Kälte nicht gedeihen. Also haben sich viele Vjætrusor in den dünn besiedelten Gebieten im Norden vom Ithyrios niedergelassen. Und manche von ihnen, wie meine Großeltern, sind in die größeren Städte abgewandert.”
Draußen krächzte eine Krähe, im nächsten Moment erklang das Flattern von Flügeln. Severin blickte Lucius direkt an. „Mein richtiger Name ist übrigens Sværin. Aber weil das kaum jemand gut hierzulande aussprechen kann, haben mir meine Eltern stattdessen den ithyrischen Namen Severin gegeben. Als Rufname. Und mittlerweile ist er mir in Fleisch und Blut übergegangen.”
„Ah, ich verstehe. Mein zweiter Name ist übrigens elfisch.”
„Oh. Ich hatte mich schon gefragt, ob du ein Elf bist.”
„Halbelf. Und mein zweiter Name ist Ithildorin, nach meinem Großvater. Aber Lucius ist mein Rufname.”
Severin rief sich ins Gedächtnis, was er über die ithyrischen Elfen wusste. Die meisten von ihnen lebten im Süden des Landes, in den Waldgebieten bei Calpanea oder in der Stadt selbst. Sie waren ein alteingesessenes Volk, das eigentlich schon immer im Land lebte, und im Gegensatz zu den Einwanderern besaßen sie die vollen Bürgerrechte. Allerdings war ihre Gemeinschaft im Laufe der Zeit geschrumpft, zumindest hatte er davon gehört. Außerdem sagte man ihnen nach, dass sie eher unter sich blieben. Was aber offenbar nicht für alle galt, sonst säße nun sicherlich kein Halbelf vor ihm.
Manche Barden besangen gern die Schönheit und die Kunstfertigkeit der Elfen, aber vermutlich wurden dabei auch so einige Klischees breitgewalzt. Lucius sah – wenn man sich all den Dreck wegdachte – gar nicht schlecht aus, aber eine ausgesprochene Schönheit war ihm nicht zu eigen.
„Sag mal, wie kam es dazu, dass der Kaiser deinem Volk die Bürgerrechte entzogen hat?”, riss der Halbelf ihn aus seinen Gedanken.
Severin runzelte die Stirn. „Sein Vorgänger hat verfügt, dass allen Vjætrusor, die seit zwanzig oder mehr Jahren hier leben, als Bürger anerkannt werden. Das betraf meine Großeltern und meine Eltern, später auch mich. Aber Kaiser Salvicius hat diese Bürgerrechte wieder aufgehoben. Angeblich, weil mein Volk mittlerweile in den Norden zurückkehren könnte, weil die Winter dort nicht mehr so schlimm seien. Aber das ist nicht wahr”, sagte er mit Nachdruck.
Er verstummte für einen Moment, als ganz in der Nähe eine Tür krachend ins Schloss fiel.
„Jedenfalls, ich hab mehr als einmal gehört, dass jene, die noch dort leben, immer wieder mit starkem Frost und Unwettern zu kämpfen haben. Durchreisende und Handeltreibende erzählen davon. Außerdem haben die meisten von uns nun in Ithyrios eine Existenz aufgebaut, viele über Jahrzehnte hin. Der Erlass des Tyrannen ist eine Katastrophe! Meine Leute dürfen weder studieren, noch Geschäfte eröffnen oder Land kaufen. Eine Lehre beginnen, das ist ebenfalls verboten. Die vetrusischen Landwirte werden gerade noch geduldet, aber sie müssen, wie auch die langjährigen Einheimischen, hohe Abgaben entrichten, um die Kornkammern des Landes zu füllen. Die Möglichkeiten, überhaupt einen Beruf zu ergreifen, sind für uns seit dem Erlass stark eingeschränkt.”
Ein Schrei irgendwo im Gefängnis ließ sie beide zusammenzucken.
„Das wusste ich nicht. Nicht mit all diesen Einzelheiten.” Lucius’ Miene verfinsterte sich. „Auf jeden Fall ein Grund mehr, den Kaiser abzusetzen.”
Severin nickte ihm zu. „Wohl wahr.” Sein Blick wanderte zu Lucius’ Ohren, deren Spitzen aus dem dunklen, lockigen Haar hervorragten.
„Sag mal, wenn du Kinder hättest, würden sie runde Ohren oder spitze haben?” Die Frage rutschte ihm heraus, ehe er weiter darüber nachdenken konnte.
„Wie bitte?”
„Nun, ich meine, weil du doch ein Halbelf bist?”
Lucius zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber das werde ich auch wohl nie herausfinden.”
Читать дальше