Und dann geht die Odyssee nach der Jugendherberge los. Die Straße, an der sie liegen soll, ist eine Sackgasse und geht nicht weiter. Es wird schon dunkel. Ich frage einen in seinem Garten sitzenden Mann nach der Jugendherberge. Er lässt sich von mir die Adresse geben und geht dann hinein zu seiner Frau und seinem Sohn. Sein Sohn soll mich mit dem Auto zur Herberge bringen. Aber sie besitzen „nur“ ein normales Auto. Der Sohn will mein Rad tatkräftig so ganz von oben in den leeren Kofferraum stecken. Der Platz ist aber nicht groß genug. Beim Herausziehen bricht meine Fahrradlampe ab. Ich bedanke mich für ihre Hilfsbereitschaft und schiebe mit meinem Rad weiter. Es ist schon vollständig dunkel geworden.
Mit Hilfe einer anderen Amerikanerin, die bei der Herberge anruft, und mir aufschreibt, wie ich dorthin kommen kann, setze ich mich ohne Beleuchtung in Bewegung. Bald fahre ich auf dem sowieso nicht benutzten Fußgängerweg einer großen Hauptstraße bei Straßenlampen-Beleuchtung in der Stadt gen Süden. Hier hätte mich kein Sheriff angehalten und verwarnt.
Nach endloser Suche erreiche ich mein Ziel.
Und was erwartet mich da? Mein schon von San Diego vor geschicktes Paket ist nicht in der Herberge angekommen. Für morgen habe ich mir eigentlich einen Ruhetag mit viel Schlafen vorgenommen. Das muss ich mir abschminken. Morgen habe ich viel zu erledigen. Und ich weiß noch nicht, ob ich morgen noch eine Nacht hier schlafen kann oder weiterfahren muss.
Es ist schon 21.30 Uhr, als ich unwahrscheinlich müde ins Bett falle.
Heute liegt viel an. Ich fahre
a) zur Bank und hole Geld;
b) zur Post, die weit entfernt liegt, um nach meinem Paket zu fahnden. Es ist nicht zu finden. Ich soll abends um 16.30 Uhr noch einmal anrufen;
zum Fahrradgeschäft, das ganz weit in der entgegen gesetzten Richtung liegt, um eine neue Beleuchtung montieren und die Fahrradkette ölen zu lassen und um einen neuen Sturzhelm-Rückspiegel zu kaufen, weil sich der alte vom Sturzhelm gelöst hat;
zur Bibliothek, um meine Emails zu lesen und zu beantworten. Dort muss ich eine Stunde warten, ehe ich überhaupt an einen PC kommen kann.
Wieder hin zum weit entfernten Hauptpostamt. Mir wird lächelnd berichtet, dass der Postbote in der Zwischenzeit mein Paket zur Jugendherberge gebracht hat. Also zurück zur Herberge. Auf dem Weg dorthin esse ich in einem mexikanischen Restaurant und erstehe in einem Kaufhaus Esswaren für mein morgiges Frühstück. Erst gegen 18.00 Uhr betrete ich wieder mein Zimmer in der Herberge. Das Paket mit dem Zelt und Schlafsack samt Vitaminen, Landkarten und Fotorollen wartet tatsächlich vor meiner Zimmertür auf mich. Ich hole alles raus, stecke das Zelt und den Schlafsack wieder hinein, klebe es wieder zu und beschrifte es neu mit meiner Adresse in Kiel. Jetzt ist es schon zu spät. Das muss ich morgen früh zum Postamt bringen.
In meinem Zimmer sitzt eine Frau aus New Mexiko auf einem anderen Bett. Sie ist sehr nett und staunt über mich, dass ich noch mit meinen 65 Jahren eine so schwere Fahrradtour und das noch ganz allein unternehmen kann.
Alles in allem ist dieser Tag für mich schrecklich.
Im Frühstücksraum sitzt ein schwarzhaariger älterer Mann in einem Sessel und liest Zeitung. Gestern Abend war er noch nicht in der Herberge. Als ich den Raum betrete, fragt er mich, woher ich komme. Als ich ihm geantwortet habe, erzählt er mir, dass er gehört hat, hier eine deutsche Frau zu finden. Er ist hergekommen, um sich mit mir zu unterhalten. Er sagt, dass wir uns im letzten Jahr schon einmal getroffen haben. Haben wir aber nicht! Er ist mir unsympathisch. Ich verschwinde sehr schnell, hole mein Paket und mache mich per Fahrrad auf den Weg zur Post. Diese ist noch geschlossen. So unterhalte ich mich mit dem Dienst habenden Sheriff. Er gibt mir seine Email-Adresse und bittet mich, ihm hin und wieder von unterwegs über meine Tour zu schreiben. Ich freue mich, einen Polizisten als Email-Freund gewonnen zu haben. Falls mir etwas passiert, will ich ihm das sofort schreiben. Ich fühle mich jetzt sicherer.
Als ich alles erledigt habe, und in der Herberge wieder ankomme, lässt mir der schwarzhaarige Mann ausrichten, dass er mich vermisst hat und wiederkommen wird. Ich will mit ihm aber nichts zu tun haben.
Ein anderer junger Wanderer fragt mich, was er gegen die Blasen an seinen Füßen machen kann. Er ist Wanderer und soll morgen weiter. Ich gebe ihm das spezielle Pflaster für Blasen und die Adresse davon. Ganz glücklich bedankt er sich. Ich sage zu ihm, dass er dem schwarzhaarigen Mann sagen soll, wenn er wiederkommt, dass ich gen Westen abgefahren sei.
Dieses hat alles bis kurz vor 11.00 Uhr gedauert. Fast der halbe Tag ist damit für mich nutzlos verstrichen. Doch möchte ich mich so schnell wie möglich aus dieser schrecklichen, wenn auch wunderschönen Stadt mit dem Bus gen Osten nach Mesa hinausbringen lassen.
Das ist hier eine ganz tolle Sache mit den Stadtbussen. Sie besitzen vor der Kühlerhaube eine Transportmöglichkeit für zwei Fahrräder. Dort befestige ich mein Rad, nehme alle meine Packtaschen mit in den Bus und lasse mich bis zur Power Rd. bringen. Von hier aus radle ich bis Apache Junction.
Dort komme ich um 15.20 Uhr an. Hier gibt es einen Campingplatz. Der nächste befindet sich erst in 50 km Entfernung. Und diese Kilometer bergauf noch bei gutem Tageslicht zu radeln, traue ich mir nicht zu, suche mir stattdessen die Bibliothek, lese meine Emails und beantworte sie.
Danach suche ich den KOA Campingplatz auf und lasse mir einen Platz zuweisen. Mir wird gesagt: „Schließen Sie gut Ihre Reißverschlüsse. Hier krabbeln nachts auch Skorpione herum.“ Na, das sind ja schöne Nachrichten!
Ich kaufe mir noch etwas zum Abendessen und für das Frühstück. Später, als ich alles hinter mir habe, wandere ich frisch geduscht zurück zu meinem Zelt. Es ist erst 18.30 Uhr, als ich mich schlafen lege. Das hätte ich heute nicht mehr bis Superior geschafft. Gut so. Morgen werde ich wieder früh starten. Am Himmel sind feine Wolken aufgezogen. Hoffentlich gibt es keinen Regen. Den kann ich nicht gebrauchen.
Angst im Apachen-Reservat
Die Wolken haben sich über Nacht wieder verzogen. Durch mein kleines Zeltfenster kann ich über mir Sterne strahlen sehen. Im Zelt mische ich mir mein Müsli zusammen und esse es. Danach verschwinde ich im Bad. Um 6.45 Uhr kommt die Sonne gerade über den Berghang, als ich bei verhältnismäßig warmem Wetter starte.
Es fährt sich ausgezeichnet und überwiegend bergab. Heute möchte ich unbedingt viele Kilometer wieder gut machen. Mit ordentlich viel Power halte ich mein bepacktes Rad in guter Geschwindigkeit. So brause ich durch Florence Junction und habe die Ehre, jetzt hoch über den Gonzales Pass radeln zu dürfen. Auch das geht ganz gut. Die Abfahrt ist super. In großen Schleifen rase ich zu Tal. Hin und wieder mal ein kleiner Berg, aber überwiegend abwärts. Herrlich!
Superior erscheint vor meinen Blicken. Dieser kleine Ort liegt vor einem großen Gebirgsmassiv. Hier hätte ich eigentlich gestern Abend ankommen müssen. Jetzt ist Mittagszeit. So suche ich mir ein Restaurant, setze mich hinein und bitte um etwas Essbares, das nicht zu lange Zeit der Zubereitung benötigt, weil ich mir dessen bewusst bin, dass jetzt ein sehr schweres Stück Arbeit vor mir liegt. Ich muss nämlich über ein hohes Gebirgsmassiv, das drohend direkt hinter diesem Ort steht.
Der Kings Crown Peak mit 5.541 Fuß ist nicht als harmlos anzusehen. Es schließen sich laut meiner Karte der Signal Mtn . mit 4.829 Fuß an. Dann soll noch ein Pass genommen werden. Das liegt also alles vor mir.
Auf den höheren Regalen in diesem Restaurant sind allerlei dekorative Gerätschaften aus der ehemaligen Silbermine zur Schau gestellt. In diesem großen Raum sitzen einige Gäste, die mich auf meinem Fahrrad bis hierher überholt haben und mich daher erkennen. Sie grüßen mich alle voll Hochachtung und lächelnd. Ich fühle mich wohl. Mit meinem Sprite spüle ich erst einmal den Staub aus meinem Schlund. Der Rest ist für den Durst. Auf die Frage, wie ich meine Spiegeleier haben möchte, sage ich: sunny side. Dieses bedeutet "sonnige Seite", also, dass sie in der heißen Pfanne nicht umgedreht werden sollen. Die Bratkartoffeln bestehen aus dicken Stücken mit der Schale daran. Aber ich ziehe sorgfältig jedem Stück die Schale über die Ohren. Glücklich satt verlasse ich das Lokal und gehe zu meinem Rad.
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