Hier „unten“ ruhe ich beim Essen meine Knie aus. Dabei befinde ich mich schon auf halber Höhe. Selten kommt ein Auto an mir vorbei. Und dann nehme ich all meinen Mut zusammen, setze mich wieder in Bewegung und denke an alle die anderen Fahrradfahrer, die die „Southern Tier“ schon gefahren sind. Und alle haben es geschafft.
Es ist hart, geht aber. Um auf den Pass zu gelangen, sind die Serpentinen gleichmäßig steil angelegt worden. Ich hätte aber niemals zwischendurch absteigen dürfen. Aufgrund der Steigung wäre ich nicht mehr auf mein Rad und in Fahrt gekommen. Also hätte schieben müssen.
Oben angekommen, halte ich an, fotografiere und ruhe mich etwas aus. Es ist erst 14.30 Uhr. Also brauche ich hier oben nicht zu zelten. Dazu ist es noch viel zu früh. So nehme ich die Strecke nach Buckhorn unter die Räder. Es geht anfangs nach einer schönen Abfahrt wieder hoch, dann aber nach jedem Buckel weiter abwärts. Und dann erreiche ich meinen dritten Staat:
Seit der Passabfahrt hat sich der Bewuchs der Landschaft verändert. Es gibt keine Palmen mehr. Hier herrschen Pinien und Eichen vor. Ich radle durch Wald. Mal eine schöne Abwechslung für die Augen und meine Seele. In Neu Mexiko kommt es mir so vor, als hätten die Farmer dort alle Kakteen vernichtet und fruchtbares Weideland daraus gemacht.
Leider fängt es zu tröpfeln an. Ich komme in immer tiefere Regionen. Vor mir am Horizont steht ein imposanter und mächtiger Gebirgszug. In Mule Creek bellt ein Hund ganz giftig. Er ist aber weit genug weg und kann zum Glück nicht nachkommen.
Und dann kommen die Dips: Ein Gelände wie die Ozarks in den mittleren USA: steil hinunter und steil wieder hinauf. Zum Glück habe ich eine gute Schaltung am Rad. Meine Beine machen es mit.
Über dem nächsten großen, sehr hohen und Ehrfurcht einflößenden Gebirgszug hängen drohend dunkle Regenwolken. Auch von rechts kommen sie herangestürmt. Es blitzt. Und dann erreicht mich der erste Gewitterschauer und prasselt auf mich hernieder. Schnell packe ich meinen Schlafsack, die Unterlage und mein Zelt in eine große Plastiktüte. Und weiter geht es die Dips auf und nieder.
Endlich erreiche ich die Kreuzung, von wo ich rechts auf der (180) nach Buckhorn radeln kann. Herrlich, es geht nicht mehr so tief hinunter und noch weniger hinauf. So komme ich langsam tiefer. Und dann fängt es wieder zu blitzen an. Kurz darauf jagt ein Gewittersturm von rechts mit strömendem Regen auf mich hernieder. Ich kann mich nicht mehr auf dem Fahrrad halten, habe auch große Mühe, abzusteigen, ohne umgestürmt zu werden. Ich muss rechts neben dem Fahrrad gehen und es ganz schräg mit dem Wind schieben, sonst hätte es mich nach links zu Boden gerissen.
Nach ca. fünf Minuten ist auch das Unwetter vorbei und zum Gebirge gezogen. Dort tobt es sich an zwei Stellen aus. Ich kann wieder aufsteigen und die letzten Kilometer radeln.
Bald erreiche ich Buckhorn, wo ich nur einen Campingplatz finden kann. Dort melde ich mich an und frage gleich die Besitzerin, ob sie für mich vielleicht eine kleine Hütte oder dergleichen hat, denn heute Nacht wird mein Zelt bestimmt geflutet. Sie bietet mir an, im kleinen Waschautomaten-, WC-und Dusch-Häuschen zu schlafen. Glücklich nehme ich dieses Angebot an.
Ich inspiziere den Raum. Es gibt für mich genug Platz, um meine Unterlage und meinen Schlafsack auszubreiten und mein Fahrrad neben die Waschmaschinen zu stellen. Es ist darin überwindig und sogar etwas warm. Was wünsche ich noch mehr? Mit einem sicheren Gefühl sehe ich der kommenden stürmischen Nacht entgegen. In diesem Raum kann mir nichts passieren.
Im Windschatten zweier Häuschen setze ich mich draußen an einen Tisch und nehme mein Abendessen ein. Dazu erhalte ich Gesellschaft. Ein Mann kommt in seinem Rollstuhl und unterhält sich mit mir freundlich und interessiert. Er erzählt, dass er hier in seinem Wohnwagen auf dem Campingplatz lebt. Dann verabschieden wir uns. Ich gehe in mein neues Domizil. Hier sitze ich schön warm und trocken, während draußen ein Gewitterschauer nach dem anderen vom Himmel heruntergejagt. Mein Zelt wäre heute Nacht, wenn es nicht weggeflogen wäre, so doch bestimmt vom Regenwasser voll gelaufen.
Die Nacht in diesem kleinen Häuschen ist meine Rettung. Draußen jagen sich die Blitze. Der Donner überschlägt sich. Der Sturm peitscht den Regen gegen die Glasscheiben. Im Schein der auf dem Campingplatz leuchtenden Lampen sehe ich, wie die Bäume vom Sturm gebeutelt werden. Das einfach nur aus Holzlatten erstellte Gebäude, in dem ich mich befinde, ächzt jedes Mal in allen Fugen. Es raubt mir den Schlaf.
Mein guardian angel (Schutzengel)
Um 5.00 Uhr hält es mich nicht mehr in meinem Schlafsack. Und um 7.00 Uhr starte ich bei leichtem Wind und wolkenlosem Himmel. Aber als ich die Tür öffne, strömt mir eisig kalte Luft entgegen. Deshalb fische ich mir aus meinen Packtaschen meine Winter-Fahrrad-Garderobe. Was für ein Glück, dass ich mir auch Fahrradhandschuhe mit langen Fingern mitgebracht habe. Der kalte Wind bläst mir ins Gesicht.
Für heute habe ich mich auf einen steilen Daueraufstieg vorbereitet. Es geht hoch nach Silver City: 2.200 Höhenmeter. Ich bin müde, weil ich kaum geschlafen habe. Lust will einfach nicht aufkommen. Ich bin ca. 24 km gefahren, als von hinten ein Pick-up-Auto angefahren kommt, neben mir in meiner Geschwindigkeit fährt und ich gefragt werde, ob ich im Auto mit nach Silver City genommen werden möchte. Und ob ich möchte! Das Auto fährt vor mir rechts auf den Seitenstreifen. Ich hieve alles selbst einzeln hinten auf die Ladefläche. Der Fahrer bleibt im Führerhaus und schaut durch die Rückscheibe zu mir. Im Nu ist alles auf das Auto geladen und ich darf einsteigen und auf dem Nebensitz Platz nehmen.
Und wer sitzt am Steuer? Der nette und freundliche Mann, der mich gestern Abend im Rollstuhl beim Essen besuchte. Er strahlt, als er merkt, dass er mir damit eine Freude macht! Durch das Rückfenster sieht er, dass die rückwärtige Klappe auf der rechten Seite nicht richtig eingerastet ist. Ich steige gleich wieder aus dem Auto. Und er kommt hinterher. Und wie?
Sein Rollstuhl steht zusammengeklappt vorne im Führerhaus. Den lässt er mit dem rechten Arm fast hinunter auf die Erde gleiten. Mit den Fußklappen hakt er ihn am Führerhaus außen fest, klappt die Fußrasten richtig in die Mitte und lässt den Rollstuhl ganz hinunter. Dann klappt er ihn auseinander – alles von oben aus dem Führerhaus – und lässt ein weiches, dickes Kissen auf die Sitzfläche fallen. Und dann lässt er sich gekonnt und sicher mit seinem Oberkörper in den Rollstuhl gleiten. Dabei hält er sich mit der rechten Hand an einem Griff an der Innenfläche der offenen Tür fest und mit der linken Hand stützt er sich auf dem Beifahrersitz ab. Seine beiden Beine befinden sich dabei noch im Führerhaus. Die holt er sich mit der Hand hinunter. Und dann rollt er zur Rückfront seines Pick-up-Autos, zeigt mir, was da nicht stimmt und hilft mir dabei, alles richtig einrasten zu lassen. Hinterher bugsiert er sich und anschließend seinen Rollstuhl wieder hinauf in das Führerhaus.
Ich bin von ihm begeistert. Mit welcher Kraft und Energie er das alles vollbringt! Und dabei lächelt er immer. Schon gestern fiel mir seine positive Ausstrahlung auf. Wir unterhalten uns während der Fahrt. Seine Augen strahlen Sonnenschein und Intelligenz aus. Ich bewundere ihn sehr und frage ihn, was passiert sei, dass seine Beine nicht mehr ihren Dienst tun können. Da erzählt er mir, dass dieses vor 24 Jahren bei einem Auto-Unfall passiert ist. Aber er jammert nicht, sondern meistert sein Schicksal ausgezeichnet.
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