Die meisten Straßen und Gebäude waren außerhalb des Zentrums in keinem guten Zustand. Vieles erinnerte noch an die Kolonialzeit, ja an vielen heruntergekommenen, verwitterten und mit Pflanzen aus allen Ritzen bewachsenen Fassaden, schien die Zeit seit der Unabhängigkeit stehen geblieben zu sein. Die Avenida Central war dennoch beeindruckend mit ihren dreistöckigen Geschäftshäusern, den breiten Balkonen mit prächtig verzierten Balustraden im ersten und zweiten Stock, den großen, hohen Bogenfenstern im Parterre und den weit offenstehenden Toren, die häufig einen Durchblick in schattige Innenhöfe gewährten, bepflanzt mit Bäumen und blühenden Kübelpflanzen. Es wuchs ja alles im Überfluss in diesem Tropenklima. Cornelius stellte sich sarkastisch vor, dass selbst ein Finger, nur lange in die Erde gesteckt, wahrscheinlich auch Wurzeln treiben würde.
Die vielen Menschen überall auf den Straßen, häufig ärmlich angezogen, waren meist die Kinder von Mischlingen aus Schwarzen mit Indios oder weißen. Sie waren Straßenhändler, die versuchten mit allerhand billigem Tand zu feilschen, bunten Papageien, schön geformten Muscheln, reifen Orangen und Bananen, eben Kram, an das sie ihre Hand mit wenig Geld legen konnten. Letztlich fühlten sie sich als eigenständige Unternehmer, die überall herum schwärmten und keinen in Ruhe ließen, der auch nur im Entferntesten aussah ihnen etwas abkaufen zu können. Für Cornelius war es vollkommen unverständlich, wie viele Straßenjungen sich fortwährend und persistent anboten, Schuhe putzen zu wollen. Wies man sie zu barsch ab, musste man gewärtig sein, einen dicken Klumpen Wagenschmiere auf die Schuhe geworfen zu bekommen, was leicht auch auf dem Hosenbein oder auf dem langen Rock der Damen landen konnte. Daraus erwuchs sehr schnell die Bereitschaft, seine Fußbekleidung den Lausejungen zur Reinigung freizugeben. Cornelius' Soutane wirkte offenbar wie ein Schutzschild. Die Kleinhändler machten einen weiten Bogen um ihn herum, ja viele, besonders die Älteren, zogen sogar ihren Hut vor ihm. Diese Bevorzugung war für Cornelius eine ganz neue Erfahrung, was er aber, wie er sich eingestand, für gar nicht so übel empfand.
In der Hauptstraße entdeckte er einen stattlichen Laden mit einem deutschen Namen an der Hausfront. Bereits vor seinem Stadtrundgang hatte er erwogen, falls erschwinglich, einen fein geflochtenen Panamahut zu erstehen. Die Einheimischen nannten ihn korrekt Jipijapa. Dieses Kunstwerk aus gelbem Toquillastroh hatten die Leute aus den Dörfern Ecuadors erlernt, wo dieser wundervolle Hut ursprünglich herkam und nun über das Handelstor Panama die mondäne Welt eroberte. Er hielt eine solche Kopfbedeckung für viel bequemer als sein Birett und bestimmt auch seinem Ornat angemessen. Im Schaufenster sah Cornelius genau diese Hüte. Im Laden gab es, soweit er erkennen konnte, keine weiteren Kunden. Hinter den langen Theken standen einige lokale Bedienstete, die erwartungsvoll zu ihm herüberblickten, als er eintrat. Ein Herr, etwas älter als er, gut gekleidet, trat beflissentlich aus dem halbdunklen Hintergrund, um den priesterlichen Kaufinteressenten in gepflegtem Spanisch nach seinen Wünschen zu befragen. Er war weder Indio, Mestize, Mulatte oder Chinese, er schien ganz einfach der Eigentümer des Geschäfts zu sein, dessen Name mit Grünbaum über dem Ladeneingang stand. Cornelius ließ es darauf ankommen und sprach ihn gleich auf Deutsch an. Ein erfreutes Erkennen ging über Herrn Grünbaums Gesicht, der wirklich ein Landsmann war.
»Womit kann ich dienen, Hochwürden? Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie unter meiner großen Auswahl etwas finden könnten, über den Preis lässt sich selbstverständlich später reden.«
Hätte sein Gegenüber ihn nicht direkt angeschaut, wäre Cornelius versucht gewesen, sich umzusehen, ob er wohl beim Eintreten diesen Hochwürden im Laden übersehen haben könnte. Natürlich sprach nur ihn der Besitzer an, allerdings hatte er bis zu diesem Augenblick diese Betitelung nie auf sich bezogen gehört.
»Herr Grünbaum, nehme ich an? Ich würde mir gerne einen Jipijapa ansehen, falls Sie die richtige Größe für mich haben und ich mir so etwas Schönes überhaupt leisten kann.«
Er benutzte das spanische Wort Jipijapa und nicht Panamahut, wie dieses Accessoire für gewöhnlich von den Touristen bezeichnet wurde. Cornelius wollte demonstrieren, dass er ein Lokaler war. Herr Grünbaum schien das in diesem Moment nicht besonders zu interessieren, aber er nahm es stillschweigend zur Kenntnis.
»Also Hochwürden, wie schon gesagt, über den Preis reden wir erst einmal nicht. Und sollten wir die richtige Größe oder Qualität heute für Sie nicht vorrätig haben, morgen reise ich aufs Land wo für uns die Hüte angefertigt werden. Dort besorge ich Nachschub. Ist wirklich ein viel gesuchter Artikel, dieser Hut. Die hiesigen Geschäftsleute tragen ihn gerne, wie Sie ja selbst sehen, aber auch für die vielen Durchreisenden vom Pazifik mit dem Zug nach Colón ist er ein beliebtes Andenken. ein richtiges Markenzeichen für unser Land, dieser Panamahut, besonders für die Amerikaner, die damit ihren Nachbarn zu Hause zeigen können, von welcher exotischen Reise sie gerade gekommen sind.«
Cornelius hatte die Ohren gespitzt, als das Wort vom Landausflug fiel. Da könnte sich ihm doch unerwartet auf die Schnelle die Gelegenheit bieten, das Umland mit einem Ortskundigen näher kennenzulernen. Zuerst bemühte man sich aber, im Hutstapel ein geeignetes Exemplar im gewünschten Kopfumfang zu finden, der, wie Cornelius im Geheimen hoffte, nicht vorhanden war. Wieder versuchte Herr Grünbaum auf die bevorstehende neue Lieferung zu vertrösten. Cornelius nahm seinen ganzen Mut zusammen und schlug vor, Herrn Grünbaum morgen auf seiner Einkaufstour zu begleiten. Das Einverständnis kam prompt und überschwänglich.
»Hochwürden, wo darf ich Sie mit meinem Zweispänner abholen? Ist ihnen morgen um acht Uhr angenehm oder zu früh?«
Und ob Cornelius das angenehm war! Er war sowieso gewohnt mit den Vögeln aufzustehen, um der Frühmesse beizuwohnen.
»Wäre es für Sie ein großer Umweg, bei mir im Priesterseminar vorbeizukommen, wo ich zur Zeit noch lebe? Das ist bei der Iglesia San José, in der Avenida A, an der Ecke zur Calle 8 im Casco Viego.«
»Aber Hochwürden, das macht überhaupt keine Umstände. Natürlich kenne ich die Iglesia mit ihrem berühmten Goldenen Altar. Wer nicht in dieser Stadt?!«
Am nächsten Morgen erschien Herr Grünbaum pünktlich am Seminar in seiner bequemen offenen Kutsche mit kleinem Vordach zur Schattenspende und zwei stattlichen Pferden vorgespannt. Er sprang vom Sitz des Zweispänners hinter dem Kutscher und kam mit ausgestreckter Hand auf Cornelius zu, der vor dem Tor des Seminars schon auf und ab lief, ungeduldig, in Erwartung der kommenden Erlebnisse dieses Tages. Die Fahrt versprach bequem und angenehm zu werden, obwohl die morgendliche Temperatur bei der hohen Luftfeuchte bereits schweißtreibend war. Aber wenigstens sah es an diesem Tag nicht nach Regen aus. Der Himmel zeigte sich azurblau und ohne Wolken. Grünbaums luftiger, heller Einreiher mit dem Jipijapa auf dem Kopf, in der Farbe seines Anzugs, war prächtig der Witterung angepasst, wogegen Cornelius, in seiner schwarzen, langen Robe sich schwer tat in die Kutsche einzusteigen. Er war eben an sein neues Outfit noch nicht so recht gewöhnt, hätte auch gar keine bequemere Kleidung für den Landausflug gehabt.
»Hochwürden, das verspricht ein wundervoller Tag zu werden. Vielleicht sogar ohne Regen, ganz ungewöhnlich für diese Jahreszeit. Aber wer sagt's denn, man muss nur in der richtigen Begleitung reisen. Wer könnte das besser, als ein Mann der Kirche! Vielleicht bringen Sie mir heute sogar Glück beim Einkauf. Häufig spuren die Einheimischen nicht so recht, sind manchmal unzuverlässig, was meine Bestellungen angeht. Nun, man wird sehen, es gibt immer wieder Überraschungen. Wir brauchen etwa drei Stunden bis zur Hazienda Rodriguez. Ist ein guter Freund von mir, der auf uns mit dem Mittagessen wartet. In seiner Zuckerrohrplantage liegt das kleine Dorf, in dem die Frauen leben, die für unsere Firma schon eine ganze Weile die Hüte flechten. Fahren wir los, wir haben genügend Zeit uns unterwegs zu unterhalten, und darauf freue ich mich, mein lieber Landsmann.«
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