Neue Erfahrungen, die er genoss, verband er mit den beiden letzten Schiffsbekanntschaften. Dieses unerwartete Glücksgefühl machte ihn einigermaßen optimistisch, dass er sich in seinen mitmenschlichen Beziehungen doch noch bessern könnte. Wie gerne erinnerte er sich an Jakob, allerdings hatte er von ihm nichts mehr gehört. Wie es ihm und seiner Schwester wohl ergangen war? Wo hatte es die beiden in der Zwischenzeit hin verschlagen? In seinem ersten Pfarrgarten würde er bestimmt Jakobs Buch gleich aufschlagen, um seine Gemüse- und Obstbeete von Anfang an richtig anzulegen und zu pflegen.
Aber nun lag erst einmal seine Priesterweihe hinter ihm und die Wirklichkeit hatte ihn eingeholt. Er stand isoliert in einem fremden Land, gedrängt in einen Beruf, der für ihn bis jetzt noch keine wirkliche Berufung war. Was hatte es ihm gebracht, dass er Studium und Promotion in Windeseile abgelegt hatte? Hätte nicht der strenggläubige Vater sein und der Familie Seelenheil in die Obhut des ältesten Sohnes gelegt, die Kirche einen Teil des Studiums und der Rest die Großeltern bezahlt, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen Theologie zu studieren, nur um Priester zu werden.
Er fragte sich: „Wie ist das, wenn man keine Heimat mehr hat?“ Bei dem Gedanken wurde er beinahe etwas wehmütig. Er wollte sich aber nicht erlauben, dass dieser Umstand in ihm zu einem Problem auswachsen würde. Das hieße sein Leben aus der Hand zu geben. Cornelius war mit seinen fünfundzwanzig jungen Jahren voller Wissensdurst, gewürzt mit natürlicher Neugier. Ja, er entwickelte in diesen Tagen, zu seinem eigenen Erstaunen, sogar Abenteuerlust, verbunden mit einer tüchtigen Portion Eigenständigkeit.
Pater Ernesto schätzte sein Selbstbewusstsein aber wenig. »du musst lernen dich unterzuordnen, zuallererst unter Gott und unseren Herrn Jesus, aber natürlich auch unter deine Oberen, damit an erster Stelle unser hochwürdiger Herr Bischof!« bekam er immer wieder in nasalem Singsang von seinem rundlichen Spiritual, seinem geistigen Beistand im Seminar, zu hören. Der kleine Mann in seinem schwarzen Habit, mit speckigem, breitem Ledergürtel und großer Schnalle um seine Fülle gespannt, sah ihn dann mit strengem Blick an, wobei seine fleischigen Hände die Ärmel festhielten, damit er seine kurzen Arme verschränken konnte. Er musste seine Rundungen durch eine andere Kost als die Seminaristen genährt haben. Wenn Cornelius ihn so in Gedanken vor sich stehen sah, begann es in seinen Schläfen vor Unmut zu pochen. Als aufmüpfig wollte er aber nicht gelten, das würde sein Intellekt nicht zulassen.
Für Cornelius war es Schwäche, anderen zu schmeicheln, nur um vielleicht damit etwas zu erreichen. Damit machte er sich aber das Leben selbst unnötig schwer und verstärkte seine Isolation. Mit etwas mehr Anbindung an seine Lehrer im Seminar und das Gespräch mit ihnen suchend, hätte er vielleicht etwas weniger Bedenken vor der Zukunft gehabt. Wie viel Freiheit ihm noch bleiben würde? Wo würde ihn seine Gnaden hinschicken, in welche Gemeinde? Er sehnte sich, er suchte nach Ratschlag für den Umgang mit Mitmenschen!
All die vielen Stunden, Tage, Wochen im Seminar hatten nicht ausgereicht, ihn auf wirkliche Seelsorge vorzubereiten, priesterlicher Mittler zwischen Gott und den Menschen in einer Gemeinde zu werden. Es wurde keine Beichte geprobt, auch nicht, wie er sich verhalten sollte, wenn ihm wirkliche Seelennöte anvertraut würden. Wie konnte er die Trauer eines Menschen mittragen, Trost spenden? Stattdessen wurde in der Unterweisung im Seminar reichlich Liturgie geübt - die Heilige Messe, die Trauung, die Taufe, die Kommunion. Selbstverständlich waren das wichtige Sakramente, die dem Priesteramt vorbehalten waren und die er im Schlaf kennen musste. Er für seinen Teil meinte aber, dass eine gute Predigt zentrale Bedeutung hatte. Dieses kommunikative Rüstzeug effektiv einsetzen zu lernen, das hätte er sich gewünscht, um richtig gut zu predigen, seine Hörer in der Verkündigung der 'Guten Botschaft’ mitzureißen. Stattdessen befürchtete er in seinem Sermon in Sphären abzuheben, denen seine Zuhörer nicht folgen konnten. Beschämend hatte Cornelius in unnützem Hochmut die Einstellung, dass eigentlich die meisten Menschen kaum wert waren, sich mit ihnen zu beschäftigen. Obwohl noch so jung, war diese negative Denkweise bei ihm leider tief verwurzelt. Viel zu häufig hatte er kopfschüttelnd beobachtet, wie einfach Menschen manipuliert wurden. Er empfand tiefe Verachtung gegen alle, die es taten, aber ebenso für die Maltraktierten, die es widerstandslos über sich ergehen ließen.
Zu dieser inneren Haltung, die er zum Glück meist verbergen konnte, kam noch der Umstand seines Äußeren. Er wusste zu gut, dass seine schlechteste Visitenkarte auf Mitmenschen sein Aussehen war. Seine blässliche Gesichtsfarbe mit dem geringen Bartwuchs auf den Wangen verriet nicht mehr viel von der Bräune, die ihm Algerien hinterlassen hatte oder die Sonne auf seiner Haut auf dem Schiffsdeck nach Colón. Sein Blick war zu starr, was die schönen blauen Augen hinter der randlosen Brille auch nicht zu mildern vermochten. Die schmalen, meist zusammengepressten Lippen, brachten kaum ein Lächeln hervor und das glatte, akkurat gescheitelte, dunkelbraune Haar unterstützte nur noch die zur Schau getragene Strenge. Seine neue, bis zu den Füßen reichende Soutane hing mehr an ihm, als dass sein hagerer Körper sie ausfüllte und aus dem ringförmigen, steifen, weißen Kollar ragte sein dünner Hals wie ein Pfahl. Das Birett thronte viel zu hoch auf seinem großen Schädel mit der hohen Stirn, was ziemlich lächerlich aussah, weshalb er die Kopfbedeckung meist in der Hand drehte. Ja, man hatte Mühe, ihn attraktiv und sympathisch zu finden. Wie gerne würde er als Kompensation für dieses Aussehen dann manchmal nur einfach herzlich lachen, wenn das sein angeborener idiotischer Ernst und Konservatismus nur erlaubt hätte.
Priesterstand
9 Landausflug
Er war nun tatsächlich ein frisch gesalbter Priester, ein Presbyter seiner Kirche. Das erzeugte in ihm aber leider nicht die Emotion, dadurch reifer geworden zu sein. Er saß im Seminar herum und hatte Schulden an den Bischof für seinen Talar und das Birett, die sichtbaren Zeichen seiner neuen Amtswürde. Aber er fühlte sich unbehaglich in dieser schwarzen Kleidung, sie war viel zu unbequem in der feucht-tropischen Hitze. Er erinnerte sich an den weißen Burnus in Algerien, der den heißen Temperaturen viel besser angepasst war. Am schlimmsten zerrte das Warten auf seine erste Pfarre an seinen Nerven, die Ungewissheit der Entsendung. Er konnte noch so ungeduldig sein, der Generalvikar ließ sich Zeit, wollte nichts herausrücken. Er hasste es, von anderen abhängig zu sein, hütete sich aber, dies merken zu lassen.
Es bedrückte ihn immer noch sehr, dass er sich nicht vorstellen konnte, wie er eine Gemeinde als Seelsorger leiten sollte. Wie hatte er das nur anzustellen? Umso mehr hoffte er darauf, wenigstens in der ersten Zeit von einem älteren, erfahrenen Mitbruder im Amt gestützt und unterwiesen zu werden. Er war noch kein Seelsorger, Hirte seiner Schafe, der Messen lesen, Predigten halten, Beichten hören und absolvere sagen konnte. Wie gern hätte er sich in diesen Momenten jemandem anvertraut, mit seinem Bruder Caspar, oder noch besser mit seiner Mutter, über seine Nöte gesprochen. Aber es gab ja niemanden für ihn.
Der Bischof avisierte, während der Woche, abends, falls er dazu bereit wäre, die Heilige Messe für Verstorbene lesen zu dürfen, sofern denn zahlungskräftige Bitten von Hinterbliebenen dafür gab. Einen Teil der Stipendien würde er ihm gut schreiben. Das sah er als eine willkommene Chance, seine Schulden abzuzahlen und nebenbei ein wenig bis zu seiner festen Anstellung zu verdienen. Kost und Logis im Seminar, wenn auch spartanisch und kümmerlich, waren immer noch frei. Er brauchte Beschäftigung, musste etwas tun, nur raus aus diesen vier Wänden! Am besten sich die Stadt anschauen solange ihm noch Zeit dazu blieb, denn er hatte ja wirklich noch nicht viel von seiner Umgebung, außer dem Seminar, gesehen. Er hätte auch gerne das Land und die Eingeborenen kennengelernt, allerdings brauchte er dazu eine Transportmöglichkeit, eine Kutsche oder wenigstens ein Pferd, aber dafür fehlte ihm das nötige Geld. Also musste die Stadt per pedes mit ihm vorlieb nehmen.
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