WIE EIN ENGEL AUF ERDEN
Ein Krimi aus der Nach-Wende-Zeit
von
Hannelore Kleinschmid
Gott will, dass ich mich als Engel auf Erden fühle. Als Selbstmörderin ließ er mich nicht in sein Himmelreich ein, obwohl ich eine Ewigkeit an Petrus` Tor geklopft habe. Jetzt bin ich mit 53 Jahren ein medizinisches Wunder und erhalte Westrente.
Invalide zu sein, erinnert in meinem Alter an die Einbeinigen aus dem letzten Weltkrieg. Außerdem stempelt es ab. Man gilt als irgendwie behindert und nicht ganz zurechnungsfähig. Folglich sehe ich mich als Frührentner wie die halbe DDR, von der ich mittlerweile weiß, dass es sie nicht mehr gibt. Eine Frührentnerin bin ich als realsozialistische Frau indes nicht, denn wir hatten fast ausschließlich männliche Berufe. Selbst Margot Honecker, deren Gatte unter dem Schutt der jüngsten Geschichte inzwischen zunehmend mit zwei „n“ geschrieben wird, die blauhaarige Diktatorin sozialistischer Pädagogenscharen war nur Minister und keine „in“. Aber das ist an dieser Stelle unwesentlich.
Beate Blaugrün landete nicht mit einer Todesanzeige im vereinigten Deutschland, sondern nach ausgepumptem Magen bewusstlos im Krankenbett. Dort verspürte und vernahm ich nichts von den Wehen der Wende. Mit ausgeschaltetem Bewusstsein glitt ich hinüber in den Kapitalismus bundesrepublikanischer Prägung. Auch nach dem Ende des sozialistischen Gesundheitswesens tropfte die Infusion in meine Venen. Als selbstgeschaffenes Opfer der Einheit wurde ich zum Überleben animiert. Das unterscheidet mich von den Volkseigenen Betrieben.
Meines Wissens habe ich zwischenzeitlich weder das Jenseits besucht noch irgendwelche geistig und seelisch erweiternden Erlebnisse verbuchen können. Weitestgehend bin ich Beate Blaugrün geblieben, die man gern übersieht.
Zuerst hörte ich nur Geräusche, die ich nicht zuordnen konnte. Es brummte und dröhnte um mich herum, und erst nach langer Zeit erkannte ich den grellen auf- und abschwellenden Lärm als Stimme eines Menschen. Wie lange ich danach wieder ins Nichts fiel, weiß ich nicht. Ohne mit der Wimper zu zucken, starrten meine offenen Augen eines Tages ins Licht. Eine Stimme explodierte so nahe bei mir, dass sie mich zu durchzucken schien und mein Körper von einem Krampf geschüttelt wurde.
"Sie erwacht! Sie erwacht! Sie kommt zu sich. Rufen Sie den Doktor! Schnell! Schnell!“ Aufseufzend fügte dieselbe Stimme hinzu: „Das Warten war nicht vergebens."
Damals habe ich diese Worte nicht begriffen. Aber Karin hat sie mir inzwischen gut hundertmal wiederholt. Sie ist meine beste Freundin. Im Grunde genommen, ist sie der einzige Mensch auf Erden, der mir nahesteht. Karin Ispen kümmert sich und verschwendet meinetwegen manchen Gedanken.
Sanftes Schwarz erlöste mich nach dem einen Augenblick aus Licht und Lärm. Erst beim dritten Erwachen hielt die Welt mich fest. Jedenfalls bis jetzt.
Ein langer, mühseliger Prozess begann, währenddessen ich mich mehr als einmal fragte, warum ich das alles auf mich nahm, wo ich doch hatte sterben wollen. Kein einziger Muskel meines Körpers war annähernd funktionsfähig. Meine Augen starrten aus dem Kopf heraus ins Krankenzimmer und erkannten nichts. Tage vergingen, ehe meine Ohren das Geräuschchaos zu ordnen anfingen. Ich erinnere mich, dass mir Karins Gesicht immer wieder erschien. Leise, ja monoton redete sie auf mich ein. Täglich erzählte sie mir von neuem, was geschehen war und wie wunderbar strahlend die lebendige Zukunft vor mir lag. Vorerst aber lag ich im Bett, verständnislos wie ein Neugeborenes, hilfloser als ein Baby. Für Karin war ich es tatsächlich: neu- oder wiedergeboren.
Die Ärzte beratschlagten über meine Aussichten, je ein Glied zielgerichtet bewegen und Zusammenhänge begreifen zu können. Wie üblich taten sie das ohne Rücksicht darauf, dass ich persönlich vor ihnen herumlag. Je mehr Zeit verging, desto schlechter standen meine Chancen, dem Rollstuhl und dem Pflegeheim zu entkommen. Tröstlicherweise mehrten sich die Momente, in denen ich Dinge und Menschen wiedererkannte.
Mit den Erinnerungen war und ist das allerdings so eine Sache. Oft weiß ich nicht, ob mir Karins Berichte Bilder vorgaukeln, wie es früher, damals, vor dem schwarzen Loch, alles gewesen ist, oder ob ich mich von allein darauf besinne.
Die mühevolle Rückkehr ins Leben machte mich sprachlos. Dabei wollte ich es belassen. Ich entsagte dem Ringen um hörbare Wörter und blieb stumm. Gegenüber Zeitgenossen und Mitbürgern hatte ich mir eine gehörige Verspätung aufgebürdet, um den Schritt in die Marktwirtschaft zu tun, die mit dem Goldenen Westen über uns gekommen war.
Zunächst landete ich im Irrenhaus.
„Du gehörst nach Pfaffi!“ war eine der übelsten Beschimpfungen meiner Kindertage gewesen. „Von den Idioten dort“ redeten die Leute, wenn sie die Patienten der Nervenheilanstalt Pfaffenroda meinten. Die braven Bürger schämten sich auch als Genossen der „Klapsmühle“, zu der die Kranken, Lahmen und Bedürftigen des ganzen Bezirkes in unsere Stadt gebracht wurden. Naja, in ihren Randbereich. Bereits im vergangenen Jahrhundert hatte man die Backsteinhäuser und -Villen hinter einer hohen Mauer verborgen, die mit Glasscherben und Stacheldraht obenauf in den bösen tausend und den nachfolgenden rosaroten Jahren von Büschen und Bäumen überwuchert wurde. Um die Anstalt zog sich parkähnliches Gelände, das dank des Mangels an Arbeitskräften den allmählichen Übergang vom sozialistischen Gärtnereiwesen zum Urwald veranschaulichte. Der Ort blieb tabuisiert, obgleich er fußläufig vom Stadtzentrum entfernt war.
Als Kinder wagten wir uns gelegentlich bis in die Nähe der Mauer, und die erhoffte Begegnung mit einem Patienten jagte schon vorab eine Gänsehaut über den Rücken. Bei unzähligen Geschichten über Geisteskranke gruselte es uns wunderbar.
Behutsam versuchte Karin, mich auf die Zeit in der Irrenanstalt vorzubereiten. Die Medizinmänner und -frauen priesen das wunderbare Wunder und meinten mich. Sie zogen im Laufe der Zeit alle Schläuche aus mir heraus und erklärten meine Körperfunktionen für weitestgehend normal. Dass ich mich nur unzureichend bewegen und gar nicht laufen konnte, schien nur mir unangenehm aufzufallen. Keiner störte sich daran, dass mein Mund stumm blieb. Oder doch? Warum wollte man mich in die Klapse abschieben?
Ich traute meinen Ohren nicht, als Karin, ohne zu stottern, vom Rehabilitationszentrum Pfaffenroda sprach und die Wendungen erklärte, die die Nervenheilanstalt vollbracht habe, um zu überleben. Meine grauen Zellen hatten dereinst gelernt, dass Kliniken zum Überleben von Patienten da sind und nicht umgekehrt die Patienten für das Überleben der Kliniken. Doch ich stufte diesen Gedanken als rückwärtsgewandt ein. Er war wohl sozialistisch geprägt.
„Pfaffi!“ dachte ich und ließ über mich ergehen, was ich nicht verhindern konnte. Zu meinen Lebenserfahrungen gehört, dass man als Patient so gut wie nichts verhindern kann. Es gibt keinen Zustand, in dem der Mensch mehr ausgeliefert ist.
Zum Abschied legte mich das Krankenhauspersonal auf eine Trage, und die Sanitäter schnallten mich fest, weil das den Vorschriften entspricht, wie mir erklärt wurde, obgleich ich nicht gefragt hatte.
Ohrensausen zeigte mir, wie sehr ich mich aufregte entgegen meiner Absicht, gelassen zu sein. Unter dem Torbogen der Heilanstalt, den ich vom Krankenwagen aus nicht sehen konnte, schwanden mir die Sinne, während der Fahrer mit dem Pförtner verhandelte und der Schlagbaum geöffnet wurde. Mein Kopfinneres fiel in Ohnmacht. Mein angeschnallter Körper fiel nicht, er blieb liegen.
„Aber das Kind ist nicht verrückt!“ Ich hörte die erregte Stimme meines Vaters.
„Das sagen sie alle.“ wurde energisch erwidert. „Alle Eltern sagen das!“
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