»Anfang der Achtzigerjahre. Wieso kannte Hild einen Mann aus Frankfurt am Main? Durfte er denn in den Westen reisen?«
»Hild hatte eingesessen. Der Bekannte, der wegen Beihilfe zur Flucht aufgeflogen war, ebenfalls.«
»Dann waren Sie also am Montag in Frankfurt, stellten fest, dass es weder den Bekannten Hilds noch dessen hochgelobte Rote Katze gab, und was machten Sie dann?”
»Für mich war es das erste Mal, dass ich Dresden verlassen hatte, um den Westen kennenzulernen. Also fuhren wir nicht auf direktem Weg auf der Autobahn zurück. Am ersten Tag fuhren wir nach Aschaffenburg. Wir sahen uns das Renaissanceschloss Johannisburg an, die Staatliche Gemäldegalerie und die Stiftskirche aus dem 12. und 13. Jahrhundert.«
Hauptkommissar Barnaby Kern schaute zur Uhr. Inzwischen war es Spätnachmittag geworden, und die meisten seiner Kollegen waren ins verdiente Wochenende unterwegs. Thomas Lenz würde noch hinter der Scheibe im Nebenraum sein und die Vernehmung beobachten. Einen Augenblick streifte ihn der Gedanke, dass Lenz ein zuverlässiger Partner war, auf den er ungern verzichtet hätte. Wie lange arbeiteten sie schon zusammen? Fünf, sechs, nein, es mochten schon sieben Jahre sein.
»In Aschaffenburg zu schlafen, wäre zu teuer geworden. Also suchten wir uns eine kleine Pension auf dem Land. Hösbach hieß der Ort. Hild hat bestimmt die Quittung für die Übernachtung. Es lässt sich für Sie leicht nachprüfen, dass wir dort waren.«
Kern machte sich eine Notiz zur Befragung Hilds und die Abforderung der Übernachtungsquittungen, die er für Montag veranlassen würde.
»Am Dienstag fuhren wir nach dem Ausschlafen weiter über Land bis Schweinfurt«, fuhr Vester fort.
»Warum Schweinfurt?«
»Da interessierte uns das 1570 erbaute Renaissancerathaus, die spätromantische Johanniskirche und das Städtische Museum. Wir übernachteten in Baunach nahe der Autobahn. Am Mittwoch besuchten wir Bayreuth, dessen Stadtbild stark in der Barockzeit geprägt wurde. Seit 1876 finden dort die Bayreuther Festspiele statt. Der Sachse Richard Wagner hat es 1872 gegründet. Die Wagner-Dynastie herrscht noch heute über die Festspiele und den Grünen Hügel. Donnerstag ging es über die Autobahn zurück nach Dresden. Da wir spät ankamen, blieb ich bei Hild, der mich heute nach Hause fuhr, wo ich die Bescherung sah. Man hatte einfach meine Wohnung versiegelt. Wie, so frage ich Sie, soll ich zu frischer Wäsche kommen, wenn ich vor verschlossener Tür stehe?«
»Wobei wir wieder beim Kernpunkt der Befragung wären«, sagte der Hauptkommissar. »Haben Sie das Unheil im Atelier Müller-Karstens verursacht, bevor Sie gefahren sind?«
»Unfug. Was für ein Unheil? Warum sollte ich das tun?«
Barnaby Kern bemerkte eine kleine Unsicherheit seines Gegenübers, die er noch nicht richtig zu deuten wusste. »Weil ein Einbrecher weniger an der Zerstörung eines Bildes und einer Druckplatte interessiert wäre als an dem Geld, das unangetastet war.«
Thomas Vester hob die Schultern: »Woher soll ich das wissen, wer dort das Geld vergessen hat.«
»Was mich wundert, ist, dass Sie, der Sie immer in Geldnot waren, mehr als achthundert Mark liegen lassen. Irgendetwas ist hier faul. Oberfaul!«
»Wer behauptet, dass ich immer in Geldnot war? Das ist schlichtweg eine Lüge.«
»Warum ist das eine Lüge?«
»Ich sagte Ihnen schon, dass Helmut Müller-Karsten immer geteilt hat.«
»Und wenn Ihnen das nicht reichte?«
»Dann gab es meine Mutter, die im Besitz einer ganzen Reihe von Bildern Müller-Karstens war. Sie verkaufte dann einige und gab mir, was ich brauchte.«
Diese Aussage bestätigte Kern die Einlassung der Frau Färber zu diesem Thema. »War es Ihr Geld, das gefunden wurde?« »Natürlich.«
»Wie viel war es genau?«
»Ich weiß es nicht mehr.«
»Wie sah die Geldbörse denn aus?«
Vester überlegte, und da er selbst nur über eine alte, kunstlederne Geldbörse verfügte, die er aber meist nicht mitnahm, weil er sich angewöhnt hatte, das Geld lose in der Tasche zu haben, beschrieb er dem Hauptkommissar eben diese Börse.
Barnaby Kern schaute auf das Foto, das Maximilian Slupinski von der Geldbörse gemacht hatte. Es war eine lederne, schwarze Tasche mit überlappendem Verschluss, wie ihn die Kellner im Hosenbund zu tragen pflegten. Offensichtlich pokerte Vester jetzt um das Geld, von dessen Existenz er bis heute keine Ahnung zu haben schien. »Worin hat Ihr Stiefvater eigentlich Geld aufbewahrt?«, fragte er abrupt.
»Gar nicht. Er hatte kein Gefühl für Zahlungsmittel. Die waren ihm egal.«
»Aber er brauchte doch Geld.«
»Für die Finanzen war meine Mutter zuständig. Sie sagte ihm rechtzeitig, wann das Geld alle war, und Müller-Karsten arbeitete wieder einen Tag konzentriert. In diesen Schaffensperioden malte er manchmal bis zu fünf Aquarelle an einem Tag, um dann wieder wochenlang nichts zu tun. Er war eben ein echter Künstler, im Leben wie im Schaffen.«
»Wo hat Ihre Mutter das Geld aufbewahrt?«
»In einer Kellnertasche.«
»In einer Kellnertasche … In einer schwarzen Kellnertasche?« »Ja.«
»Nun ist Ihre Mutter ja seit fast einem Dreivierteljahr tot. Wo befand sich die Tasche in dieser Zeit?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Sie haben die Tasche nach dem Tod also nicht an sich genommen?«
»Nein.«
»Helmut Müller-Karsten war schlecht zu Fuß, sagten Sie. Wer hat für ihn eingekauft?«
»In der Regel Frau Färber, oft auch ich.«
»Da musste er Ihnen doch Geld geben, um einkaufen gehen zu können.«
»Sie vergessen, dass ich es war, der die Bilder an den Mann brachte und einen Teil des Geldes zum Wirtschaften einbehielt.”
Barnaby Kern notierte sich, dass Vester Geld zurückbehielt. Er würde Frau Färber befragen, woher sie das Geld bezogen hatte, um einkaufen zu gehen, und wer sie letztlich für ihre Arbeit entlohnte. Er stand auf, um kurz in den Raum hinter der Scheibe zu gehen. An der Tür angekommen, drehte er sich um und fragte: »Man hat ein Bild …«, er verbesserte sich, »eine Lithografie zerstört und eine Druckplatte aus Stein.«
»Das Lächeln der Mona Lisa », entfuhr es Vester.
»Woher wissen Sie das, wenn Sie nicht dort waren, nachdem die Verwüstung stattgefunden hat?«
Vester lachte. »Es gibt augenblicklich nur einen bearbeiteten Stein im Atelier. Er war zur Herstellung eben dieses Bildes gedacht. Es zeigt meine Mutter in jungen Jahren. Steine, mit denen wir nicht mehr arbeiteten, hatten wir ausgelagert.«
Barnaby Kern ging durch die Tür in den Raum, in dem Thomas Lenz die ganze Zeit gesessen hatte und dem Gespräch gefolgt war. Schweigsam ging er an die Scheibe und beobachtete Vester, der seinerseits auf die Spiegelscheibe stierte, wohl wissend, dass man ihn beobachtete.
»War er es?«, fragte Thomas Lenz.
Kern hob die Schultern. »Er ist schwer zu fassen. Vielleicht ist er ein Psychopath mit einer schweren Persönlichkeitsstörung. Das wäre nichts Neues. Die meisten Psychopathen kommen aus zerrütteten Familien. Sie sind aggressiv, auffallend angstfrei, unzuverlässig und impulsiv. Gefühle wie Schuld, Reue, Scham, Fürsorge, Einfühlung, Liebe scheinen bei ihnen zu fehlen.«
»Und nun?«
»Wir schicken ihn nach Hause und holen uns am Montag diesen Hild.« Die beiden Kommissare gingen wieder zum Vernehmungsraum. »Sie können jetzt gehen. Am Montag werden wir das Atelier öffnen«, sagte Kern. »Bis dahin müssen Sie woanders übernachten. Eine Frage habe ich noch. Wo sind Sie eigentlich zur Schule gegangen?«
»In Bischofswerda.”
»Aber Ihre Mutter lebte doch in Dresden.«
»Meine Großeltern haben mich aufgezogen. Ich bin erst später nach Dresden gegangen. Nach dem Tod meines Großvaters.«
»Bleiben Sie während der nächsten Woche in Dresden. Es kann sein, dass wir Sie noch einmal brauchen.« Barnaby Kern nickte Lenz zu. Der forderte Vester auf, ihm zu folgen, und brachte ihn zum Ausgang.
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