Barnaby Kern war sich klar darüber, dass er bei Thomas Vester ansetzen musste. Das war der Schlüssel, um Klarheit über den Zustand des Fundortes zu erlangen. Mord schien nach erstem Augenschein ausgeschlossen. Nur wenn man dem Mann nachweisen könnte, dass er Müller-Karsten mit Absicht dort liegen gelassen hatte, ohne ihn zu versorgen, wäre das eine Straftat,
vielleicht sogar vorsätzlicher Mord. Und was die Unordnung, die Zerstörung des Bildes und des Drucksteins anging, daraus ließ sich keine Straftat konstruieren, die mit einem nicht stattgefundenen Mord in Verbindung gebracht werden konnte. Aber wenn Thomas Vester diese Unordnung herbeigeführt hatte, wenn er voraussetzte, dass diese Unordnung von der Polizei in Augenschein genommen würde, dann wollte er eine Spur legen. Die Frage war, ob Vester, von dem die Putzfrau behauptete, er sei ein Trinker, intellektuell überhaupt in der Lage war, eine solche Tat zu begehen.
Mit diesem Gedanken verbrachte er an diesem Vormittag mehr Zeit als mit dem dringend notwendigen Papierkram, der sich beängstigend auf seinem Schreibtisch staute. Ich brauche Zeit zum Überlegen. Und Luft brauche ich. Barnaby Kern beschloss, für einige Zeit hinunter zur Elbe zu gehen. Zehn Minuten später stand er auf der Brühlschen Terrasse. Der Wind wehte nur ganz schwach. Der blaue Himmel zeigte kaum ein Wölkchen. Hitze hatte sich schon breitgemacht.
Unterhalb der Brühlschen Terrasse waren die Liegestellen der Fahrgastschiffe. Die Dresden hatte gerade abgelegt und fuhr flussabwärts. Zischend fuhr der Dampf aus der Signalpfeife, gab einen krächzenden Ton von sich, der langsam klarer wurde. Der Dampf entwich in einer kleinen Wolke, bevor er sich ins Nichts auflöste. Das Schiff war in den Zwanzigerjahren gebaut worden und immer noch sehr schön. Kern liebte die historischen Dampfer mehr als die neuen, riesigen Schiffe, die aus anderen Ländern zum Besuch der Stadt für kurze Zeit hier anlegten. Einer dieser Riesenkästen lag direkt vor ihm. Die Swiss Coral zeigte die Flagge der Schweiz, Heimathafen Basel. Sicher war eine solche Flussfahrt interessant, und man konnte eine Menge sehen. Aber ebenso sicher war, dass diese Reisen verdammt teuer waren. Ein Hauptkommissar müsste eine ganze Zeit sparen, um sich einen solchen Luxus leisten zu können. Der kleine Luxus aber, die Fahrt mit einem der historischen Schiffe nach Wehten zum Schloss Pillnitz oder Rathen, war für jedermann erschwinglich.
Die Gedanken an den Kunstmaler, die Eindrücke und Fakten, die er gesammelt hatte, holten Barnaby Kern wieder ein. Eigentlich müsste er den Fall abgeben. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass Helmut Müller-Karsten eines natürlichen Todes gestorben war, gab es keinen zwingenden Grund für ihn, weiter zu ermitteln. Ein anderes Kommissariat wäre nunmehr für die Ermittlungen zuständig. Aber irgendetwas hielt ihn zurück, den Fall so schnell abzugeben. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Wenn dieser Thomas Vester tatsächlich ein trunksüchtiger Mann war, der nie Geld hatte, wieso fand sich dann bei der Durchsuchung ein Betrag von über achthundert Mark an? Wem gehörte das gefundene Geld? Dem Maler? Wenn der tatsächlich diesen Vester in seinem Atelier wohnen ließ, weil der Sohn seiner verstorbenen Frau nie über Geld verfügte, dann doch wohl kaum, indem er ihm noch eine Geldreserve in aller Heimlichkeit zuschob. Und selbst wenn er das gemacht hätte, wann hatte er das Geld im Atelier deponiert? Nach dem Sturz war das ja wohl kaum möglich. Und vor dem Sturz? Hätte es da Vester nicht mit auf die Reise genommen? Also hätte er es dem Vester möglicherweise oben in der Wohnung gegeben. Gut, vielleicht war es ja so. Aber warum lag es dann in diesem verwüsteten Raum?
Ein Mann auf einem Jetski fuhr schnell elbaufwärts, wendete vor der Carolabrücke und raste mit dem laut brummenden Gerät an der Anlegestelle der sächsischen Dampfschifffahrt vorbei bis zur Augustusbrücke, um dann abermals zurückzukommen. Offensichtlich interessierte er sich für die lange und für die Elbe mächtige Swiss Coral. Diese kleinen einsitzigen Dinger wären vor der Wende undenkbar gewesen. Aber es war schon erstaunlich, was die politische Veränderung alles in Gang gesetzt hatte.
Kerns Handy machte sich bemerkbar. Es war Thomas Lenz. »Einer der Bewohner des Künstlerhauses hat angerufen«, sagte er. »Thomas Vester ist nach Hause gekommen. Der Mann habe zufällig aus dem Fenster geschaut, als Vester aus einem Auto stieg.«
»Schick einen Streifenwagen hin, und lass den Mann holen.«
»Schon geschehen.”
Barnaby Kern unterbrach die Verbindung, warf noch einen langen Blick auf das herrliche Elbflorenz-Panorama und machte sich auf den Rückweg zur Schießgasse. Es war kurz vor Mittag. Er ging zur Kantine. Wenn ich jetzt nicht auf die Schnelle einen Happen zu mir nehme, kann es sein, dass ich überhaupt nicht mehr zum Essen komme. Er war glücklich, dass er in der Schlange seine Kollegin Silke Fritsche aus seinem Kommissariat ausmachen konnte. Er ging zu ihr, bat sie, ihm etwas leicht Verdauliches mitzubringen. Sie wusste um seinen nervösen Magen und deutete auf den Reis mit Hühnerfrikassee. Kern nickte und machte sich auf die Suche nach einem geeigneten Platz.
»Da haben Sie wieder einmal Glück gehabt, Hauptkommissar, dass Sie jemanden gefunden haben, der Sie bedient.« Sie lächelte ihn freundlich an und stellte das Tablett mit dem Hühnerfrikassee vor ihm ab.
»Auf die Frauen in meiner Truppe ist doch immer Verlass«, konterte Barnaby Kern. Lustlos begann er, in dem Essen herum zu stochern.
»Schon gehört, Thomas lässt diesen Vester gerade holen. Ich habe den Computer noch einmal strapaziert. Es gab mal eine Anzeige wegen Betrugs gegen den Mann.«
»Haben Sie den Vorgang ausgedruckt?« Barnaby Kerns Interesse war augenblicklich geweckt.
»Ja. Aber Sie werden enttäuscht sein. Ein Mann hatte ihn an-gezeigt, er habe etwas über hundert Ostmark unterschlagen, die sie gemeinsam vertrunken hätten. Auf Befragung sagte der Beklagte, er könne sich nicht mehr an einen solchen Vorgang erinnern. Schließlich hätten sie über Stunden den Geburtstag des Klägers gefeiert. So stand Aussage gegen Aussage. Und die Summe schien dem Gericht zu unbedeutend, um eine große Sache daraus zu machen. Vester sollte dem Kläger die Hälfte des Geldes, also fünfzig Mark, zurückzahlen.«
»Peanuts«, sagte Barnaby Kern enttäuscht. »Sonst nichts?«
»Da war irgendetwas mit Hehlerei. Aber auch da konnte ihm nichts nachgewiesen werden.”
»Peanuts, alles Peanuts.« Er schob angewidert seinen Teller weg. »Ich muss jetzt«, sagte er, legte einen Fünfmarkschein auf den Tisch, lächelte der Frau noch einmal zu und ging, noch ehe er den Protest bezüglich der Überzahlung des Essens entgegennehmen konnte.
Als er in das Büro der Kommissare kam, empfing ihn Thomas Lenz mit den Worten: »Der Vester ist gerade eingetroffen. Ich habe ihn in den Vernehmungsraum bringen lassen.«
»Lass ihn noch einen Augenblick schmoren. Silke hat mir gesagt, es gäbe etwas über den Mann in den Akten.«
Lenz schob Barnaby Kern eine Handakte hin. »Das ist alles, was über den Mann aktenkundig ist.«
Der Hauptkommissar las, was Silke Fritsche ihm schon berichtet hatte und auch über die Hehlerei einer Musikanlage, die ihm aber letztlich nicht nachgewiesen werden konnte. Darüber hinaus gab es eine Notiz des Ministeriums für Staatssicherheit über die Einbindung des Mannes als informeller Mitarbeiter. Thomas Vester hatte eine dahin gehende Verpflichtung unterschrieben.
»Na endlich«, sagte Kern. »Endlich mal ein brauchbarer Hin-weis.«
Als Silke Fritsche in den Raum kam, sagte Barnaby Kern: »Das Wichtigste haben Sie mir unterschlagen, Frau Kommissarin, die Verpflichtung Vesters als IM bei der Staatssicherheit.«
Die Frau zwinkerte ihm zu und sagte: »Sie lassen einen ja nicht einmal zu Wort kommen, Herr Hauptkommissar. Als ich es Ihnen sagen wollte, waren Sie schon wieder auf dem Weg ins Büro. Offensichtlich haben Sie Angst, etwas zu verpassen, und das Essen haben Sie auch stehengelassen.« Sie kam zu ihm und gab ihm den Rest des nicht verbrauchten Essengeldes.
Читать дальше