Thomas Lenz ging zu dem rotbraunen Barockspiegel. Die geschweiften Beine waren goldüberzogen, die Tischplatte aus weißem Marmor. Den Spiegel selbst hatte man auf diesem Tisch aufgesetzt. Er reichte bis fast an die Decke. Unten schloss er mit der Wand ab, während er oben etwa zwanzig Zentimeter in den Raum hinein abstand. Beidseitig hingen Putten an der Wand. Diese kleinen, meist nackten Kinder- oder Engelsfiguren, die in der Frührenaissance aufkamen, wurden dem Höhepunkt des Barocks zugeschrieben. Lenz fragte sich, ob das alles echt war, kannte sich aber zu wenig aus, um eine Antwort zu finden. Dann sah er den Schlüssel liegen. Gemeinsam gingen sie die beiden Halbtreppen hinunter zum Souterrain.
»Sie bleiben bitte hier«, sagte Barnaby Kern zu der Frau, während Lenz aufschloss.
Der Anblick, der sich ihnen bot, war gespenstisch. Bilder lagen verstreut auf dem Boden. Eine Druckplatte zur Herstellung von Lithografien hatte man zum Teil zerschlagen. Die Wände waren mit roter Farbe beschmiert. »Ich weiß nicht, welcher Teufel hier gewütet hat«, sagte der Hauptkommissar zu Thomas Lenz, »aber es sieht nach einer Verwüstungsorgie aus. Ruf die Spurensicherung an und die Rechtsmedizin. Das volle Programm.
Als Thomas Lenz zum Wagen ging, um in der Zentrale anzurufen, begab sich Kern mit der Frau wieder hinauf zur Wohnung. »Brauchen Sie mich noch? Mir ist der Aufenthalt in dieser Wohnung unheimlich«, sagte sie.
»Tote beißen nicht mehr, Frau Färber«, sagte Barnaby Kern. »Ich habe noch einige Fragen.«
Während sich die Frau wieder dort hinsetzte, wo sie zuvor gesessen hatte, schaute Kern ins Schlafzimmer. Es war unaufgeräumt. Das Bett schien schon seit Tagen nicht mehr gemacht worden zu sein. Man hatte es auch nicht bezogen. Rot und anklagend leuchtete das Inlett. Kern drehte sich um und fragte die Frau: »Das Bett ist nicht bezogen. War das hier so üblich?«
»Seit dem Tod seiner Frau hat Müller-Karsten das Schlafzimmer nicht mehr benutzt. Die Frau ist in diesem Zimmer verstorben.«
Die Luft war drückend. Kern stellte fest, dass hier nichts durchwühlt schien. Aber richtig würde er es erst wissen, wenn die Spurensicherung ihre Arbeit verrichtet hatte. Er schloss die Tür wieder und ging zurück zum Tisch. »Wo wohnen Sie eigentlich?«, fragte er unvermittelt.
»Auf der anderen Elbseite in Blasewitz.« Sie wartete einen Augenblick, und als der Kommissar nichts sagte, fuhr sie fort: »In der Sebastian-Bach-Straße, Ecke Tolkewitzer Straße. Aber im Sommer bleibe ich meist tagelang auf meinem kleinen Laubengrundstück in Coschütz. Ich habe einen schönen Garten mit vielen Blumen. Das ist mein Hobby.«
»Oh, Sie haben ein Laubengrundstuck?«
»Mein Vater hat es mir hinterlassen. Es ist zwar nur gepachtet, aber der Pachtzins ist so niedrig, dass ich es mir gerade noch leisten kann. Dafür muss ich nicht verreisen.«
»Sind Sie nicht verheiratet?”
»Geschieden.«
Er dachte kurz daran, dass es eine Vergeudung weiblicher Ressourcen sei, wenn eine solche Frau allein lebte. Normalerweise war es nicht seine Art, weitere Fragen zu stellen, die in das Privatleben eines Menschen eingriffen. Aber hier ging es um mehr. Vielleicht sogar um Mord, und da schob er seine Zurückhaltung beiseite. »Haben Sie einen Lebensgefährten?«
»Ist es wirklich nötig, eine solche Frage zu stellen?« Roswitha Färber war pikiert. Genau so hatte er sie eingeschätzt.
Barnaby Kern nickte.
»Nein, ich lebe allein. Im Augenblick jedenfalls.«
»Ich werde einen Streifenwagen nach Bischofswerda schicken, um diesen Vester zu holen. Wissen Sie, wo sich das Grundstück befindet?«
»Irgendwo im Drebnitzer Weg oder im Anschluss daran. Da sind noch einige Gartenanlagen. Aber fragen Sie mich nicht, wie es genau heißt.«
»Das klingt, als wären Sie schon einmal dort gewesen.«
»Mein Bruder hat ein Auto. Wir haben die Müller-Karstens einmal hingefahren, weil sie kein eigenes Fahrzeug hatten.«
»Würden Sie das Grundstück wiederfinden?«
»Bestimmt.«
»Wäre es zu viel verlangt, Sie zu bitten, uns kurz den Weg zu zeigen?«
Die Frau überlegte einen Augenblick: »Na ja, dann wäre es mir zu spät, um nach Coschütz zu fahren. Aber ich kann ja auch eine Nacht in meiner Wohnung verbringen.«
»Das ist kein Problem. Wir können Sie im Streifenwagen rausfahren. Sie würden uns wirklich sehr helfen.«
Barnaby Kern zeigte ihr mit einer Handbewegung, dass sie warten möge, und ging hinaus. Östergard stand mit einem anderen Polizisten an der Absperrung. Sie stellten ihr Gespräch ein, als sie den Hauptkommissar auf sich zukommen sahen. »Sie fahren jetzt nach Bischofswerda. Dort holen Sie einen Mann ab und bringen ihn in die Schießgasse. Damit Sie den Weg finden, wird Sie eine Zeugin begleiten.«
Während der Polizeiobermeister zu seinem Streifenwagen ging, um die Zentrale von seiner Fahrt zu informieren, holte Kern die Frau. Auf der Treppe trafen sie auf Thomas Lenz, der von dem Gespräch mit der Zentrale zurückkam. »Die Kollegen sind unterwegs. Den Doktor mussten sie aus seiner Wohnung holen.«
Kern brachte die Frau zum Streifenwagen. Thomas Lenz ging wieder hoch in die Wohnung mit dem Toten. »Wenn wir Glück haben, wissen wir heute Abend mehr«, sagte Kern, als er in der Wohnung ankam.
Thomas Lenz hatte sich Latexhandschuhe übergezogen und machte sich an einem alten Schreibschrank mit Aufsatz zu schaffen. Es war kein besonders gearbeitetes Stück, strahlte dennoch Behaglichkeit aus.
»Ich habe hier einen interessanten Briefwechsel mit einem gewissen Dieter Schubert aus Stuttgart aus dem Jahr 1979. Da heißt es unter anderem: Lieber Helmut Müller-Karsten, ich bin bemüht, eine Ausstellung für Sie hier in Stuttgart zu organisieren. Das Problem ist nur, dass der staatliche Kunsthandel der DDR Ihre Bilder nicht aus dem Land lassen will. Ich werde versuchen, mit Verantwortungsträgern Ihres Landes Verbindung aufzunehmen, um doch noch eine Ausstellung zustande zu bringen. Wie geht es Ihrer charmanten Frau Ursula? Blablabla … Ihr Dieter Schubert. Glaubst du, dass das was mit dem Fall zu tun hat?«
»Spekulation, Thomas. Aber wir müssen allen Spuren nachgehen.«
Kurze Zeit später traf die Spurensicherung ein. Hauptkommissar Maximilian Slupinski, der Leiter der Truppe und ein gewiefter Kriminaltechniker, streckte den Kopf zur Tür herein und nickte den beiden zu.
»Ich weiß nicht, ob der alte Mann eines unnatürlichen Todes gestorben ist«, teilte Kern ihm mit. »Die Arbeitsräume sind verwüstet, und da solltet ihr anfangen.« Er nahm den Schlüssel, den er ordnungsgemäß auf den Spiegeltisch zurückgelegt hatte, und ging mit Slupinski die beiden Halbtreppen hinunter.
»Wer ist der Tote?«, fragte Slupinski.
Barnaby Kern hob die Schultern, sagte: »Ein Kunstmaler. Helmut Müller-Karsten.«
Slupinski stieß einen leisen Pfiff aus.
»Kennst du ihn?«
»Du nicht? Ich habe vor der Wende nach einer Ausstellung zwei Bilder direkt von ihm erwerben können. Ein Aquarell, Blumenstrauß in meinem Garten , und ein Litho, das eine Katze zwischen Blumen zeigt. Ich hab es für Monika gekauft. Sie hat es mit Katzen.«
Sie waren vor der Tür zum Arbeitsraum des Künstlers angekommen. Kern fragte: »Was war das für ein Mann?«
»Er war ein sehr bescheidener Mann. Während der gesamten Vernissage saß er ruhig auf einem Stuhl in einer der Ecken des Raumes. Man hatte den Eindruck, er würde sich fast bedanken, wenn einer sich mit ihm über eines der Bilder unterhielt.«
»Sind die Dinger etwas wert?«
Slupinski lachte: »Die Bilder sind heute ein Vielfaches wert.«
Barnaby Kern öffnete die Tür. Slupinski blieb einen Augenblick bewegungslos im Eingang des Raumes stehen. Nur seine Augen wanderten von einer Ecke zur anderen, nahmen die Verwüstungen auf. »Was denkst du?«, drängte er.
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