Noch während Roswitha Färber über ihr Handy den Notruf der Polizei anwählte, dachte sie an die Betrachtungen der Farbe Gelb, die sie an diesem Tag auf dem Weg hierher angestellt hatte. Gelb war nicht nur die Farbe für Missgunst und Hass, für Neid und Streit. Gelb war für sie nun auch die Farbe des Todes.
Dresden, im Juli 1994
Der Notruf erreichte die Zentrale um 9 Uhr 56. Eine Frau meldete den Fund einer Leiche. Die Leitstelle der Polizei schickte einen Streifenwagen zu der angegebenen Adresse. Die Beamten wiederum verständigten die Kripo, weil der Notarzt auf dem Totenschein ungeklärte Todesursache angekreuzt hatte.
»Wir haben eine Leiche. Der Arzt hat Zweifel an einem natürlichen Tod«, sagte Kriminaloberkommissar Thomas Lenz. »Wir sollen uns das anschauen, Barny.«
Hauptkommissar Barnaby Kern war mit seinen zweiundfünfzig Lenzen ein alter Hase in der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Sein Ruf ging weit über die Grenzen Dresdens hinaus. Und so war er nicht nur ein gern gesehener Gastdozent an der Humboldt-Universität in Berlin; für ein Vierteljahr war er auch am Institute of Criminology der Cape Town University in Kapstadt in Südafrika tätig gewesen. Die Kollegen dort hatten ihn mit einer gewissen Hochachtung Barny genannt, und diese Abkürzung seines Namens hatten sich dann auch die Kollegen in Dresden zu Eigen gemacht.
»Wo?«
»In Loschwitz.«
Barnaby Kern stand auf, schob umständlich seinen Stuhl wie-der an den Schreibtisch. Lenz stand schon an der Tür. Sie fuhren von der Polizeidirektion in der Schießgasse über die Steinstraße direkt zum Käthe-Kollwitz-Ufer und dort an der Elbe entlang. Der Ausflugsdampfer Cosel fuhr eine kurze Zeit neben ihnen flussaufwärts. Dann hatten sie ihn überholt. Sie nahmen die neue Umfahrung und kamen von der Rückseite über die Kretschmer und Tolkewitzer Straße zum Schillerplatz. Als sie das Blaue Wunder überquerten, konnten sie linksseitig die Cosel wieder sehen. Vor dem Körnerplatz staute sich der Verkehr, und Thomas Lenz stellte das Blaulicht aufs Dach. Das zuckende Licht brach sich in den Schaufenstern der Geschäfte und wurde mehrfach wiedergegeben. Die Ermittler preschten die Pillnitzer Landstraße entlang und waren nach wenigen Minuten vor dem großen gelben Haus Nr. 57/59 angekommen, in dem seit vielen Jahren ein Teil der Dresdner Künstler wohnte und arbeitete. Zwei Funkwagen standen in der Durchfahrt zum Hintereingang des Gebäudes. Lenz hatte Mühe, den Wagen so zu parken, dass er nicht auf die viel befahrene Pillnitzer Landstraße hinausragte. Den Beamten, der neben einem der Wagen stand, kannten sie nicht. Zu groß war der Apparat in Dresden, um alle zu kennen.
Barnaby Kern zog den Dienstausweis, fragte nur: »Wo?«
»Im hinteren Eingang, Hochparterre.«
Thomas Lenz und Barnaby Kern strebten dem Eingang zu. Die Kollegen der Schutzpolizei des Reviers Nord hatten den Eingang schon mit einem rot-weißen Band abgesperrt, sodass Unbefugte keinen Zutritt zum Tatort hatten. Dennoch war die Neugier der Mitbewohner unübersehbar. Einige schauten ungeniert aus dem Fenster, andere versuchten, dicht an der Absperrung stehend, einige Blicke zu erhaschen und etwaige Neuigkeiten via Zuruf nach oben zu verbreiten.
Die beiden Beamten betraten die Wohnung. Auf dem Sofa saß Roswitha Färber, die nun still vor sich hin weinte. Neben ihr stand einer der Polizisten in Uniform und redete beschwichtigend auf sie ein. Der Hauptkommissar kannte ihn. Es war Polizeiobermeister Östergard.
Also dann, dachte Barnaby Kern, fangen wir an. Jetzt geht es los. Er nickte kurz Thomas Lenz zu und sagte dann zu dem Polizisten in Uniform: »Danke, Kollege. Wir übernehmen das jetzt.« Er sah, wie der Mann wegging, und schaute taxierend die Frau an, die vor ihm saß und ihn mit Tränen in den Augen musterte.
Der Tote lag noch da. Man hatte ihn mit einem Bettlaken zugedeckt. Thomas Lenz war hingegangen, hob das Laken hoch, schaute zum Hauptkommissar hinüber und schüttelte den Kopf.
»Mein Name ist Barnaby Kern. Ich bin Hauptkommissar bei der Mordkommission Dresden. Sie haben ihn gefunden?«
»Ja.«
»Wie heißen Sie?«
»Roswitha Färber.«
»Was haben Sie hier gemacht, Frau Färber?«
»Ich komme zweimal pro Woche, halte dem alten Herrn die Wohnung sauber und kaufe für ihn ein. Er ist nicht mehr so gut zu Fuß.«
»Dann haben Sie einen Schlüssel?«
»Ja. Aber in der Regel brauchte ich ihn nur, um die Haustür zu öffnen. An der Wohnungstür habe ich eigentlich immer geklopft, und Herr Müller-Karsten hat mir geöffnet oder gerufen, ich solle hereinkommen. Diesmal aber war es anders.«
Als die Frau nicht weitersprach, ermunterte er sie: »Was war anders als sonst?«
»Die Haustür war unverschlossen.«
»Vielleicht hatte es der Mann ja vergessen?«
»Seit dem Tod seiner Frau schloss er die Tür immer ab. Er litt so stark unter dem Alleinsein, dass er mit niemandem mehr redete. Mit Ausnahme von Herrn Vester und mir.«
»Wer ist Herr Vester?«
»Sein Sohn.«
»Wieso heißt der Vester?«
»Es war wohl ein Sohn aus der ersten Ehe der Frau.«
Barnaby Kern betrachtete die Frau. Obwohl sie schon um die vierzig war, schien sie unverbraucht. Ihr Gesicht zeigte kaum Falten, und in dem gelben Kleid sah sie hübsch aus. »Sein Sohn? Haben Sie ihn schon verständigt?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Er ist nicht da. Ich habe bei ihm geklopft. Aber er hat nicht aufgemacht, und da ist mir eingefallen, dass er nach Bischofswerda gefahren ist.«
»Was macht er dort?«
»Die Müller-Karstens besaßen dort einen Garten mit einer Laube, die die Frau von ihren Eltern geerbt hatte. Der Vater war vor dem Krieg Fabrikant.«
Thomas Lenz, der hinausgegangen war, um mit einem der Polizisten zu sprechen, die den Eingang sicherten, kam zurück. »Barny, hier hat ein Vester gewohnt. Unten im Souterrain. Der soll mit dem Toten verwandt gewesen sein.«
Barnaby Kern antwortete nicht darauf, sondern fragte die Frau: »Warum sagen Sie nicht gleich, dass Vester hier gewohnt hat?«
»Es waren die Arbeitsräume von Helmut Müller-Karsten. Er hat Thomas Vester dort wohnen lassen, weil der keine Wohnung hatte.«
»Aber heute gibt es doch wirklich genügend Wohnungen auf dem freien Markt«, warf Thomas Lenz ein.
»Der Junge war wohl ein Trinker, der sich für einen Künstler hielt, aber wohl keiner war und nie Geld hatte. Er segelte immer im Windschatten seines bekannten Vaters.«
»Der Junge? Wie alt war denn der Junge?«, fragte Barnaby Kern.
»Wir haben kürzlich seinen neunundvierzigsten Geburtstag gefeiert.«
Thomas Lenz prustete los: »Und da sagen Sie – der Junge?«
Barnaby Kern schaute seinen Kollegen an und schüttelte tadelnd den Kopf. »Na ja, das müssen Sie uns erklären«, sagte der Hauptkommissar.
»Seine Mutter sagte immer »Der Junge braucht unsere Hilfe.« Und da er lebensuntüchtig war, hieß er auch bei mir so.«
»Wieso war er lebensuntüchtig?«, bohrte Kern nach.
»Wenn er einmal Arbeit hatte, flog er gleich wieder raus, weil er nie pünktlich war und ständig eine Alkoholfahne hatte. Wie gesagt, er war Trinker.”
»Aber er muss doch von irgendwas gelebt haben.«
»Helmut Müller-Karsten malte manchmal an einem Tag mehrere Aquarelle. Meist welche, die junge Frauen in allen Lebenslagen zeigten. Seine Frau reklamierte dann regelmäßig die schönsten Bilder für sich. Aus diesem Fundus bediente sich Vester mit Wissen der Mutter, denn er kannte immer Leute, die ihm die Bilder unter Wert abkauften.«
»Also war eigenes Arbeiten und Verdienen gar nicht zwingend nötig«, stellte Kern fest.
»Nicht wirklich.«
»Sehen wir uns das Untergeschoss an. Haben Sie einen Schlüssel?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich habe nur hier oben sauber gemacht. Aber der Schlüssel müsste auf dem Spiegeltisch liegen.
Читать дальше