»Dass jemand etwas gesucht haben könnte. Aber noch weiß ich es nicht genau.«
Zwei seiner Leute kamen in ihren weißen Schutzanzügen, grüßten, blieben einen Augenblick stehen und gingen, nachdem ihr Chef sie mit einem Nicken aufgefordert hatte, an die Arbeit.
Als Kern wieder in die Wohnung im Hochparterre kam, war Thomas Lenz noch immer dabei, die Privatpost des Malers zu sichten. »Ich habe einen Brief ohne Absender, aber mit einem Ort vor dem Datum gefunden, der offensichtlich von seinem Sohn stammt, denn er beginnt mit Lieber Vater, wie Du siehst, ist aus mir auch etwas geworden. Kein Maler, denn dazu fehlt mir jedes Talent. Aber ich denke, ich bin ein brauchbarer Journalist und Buchautor geworden. Es ist mir gelungen, mit einem Diplomaten meinen ersten Roman für Dich mit nach Dresden zu geben. Blablabla … Dein Sohn. Der Brief kommt aus Öhningen.«
»Wo in Gottes Namen liegt Öhningen?«
»Am Bodensee.« Die Stimme kam von Johannes Bahrmann, dem Rechtsmediziner, der in der Tür stand.
»Hallo Doktor«, sagte Lenz.
»Ich hörte, man hat Sie aus der Freizeit gerissen«, stellte Kern fest.
»Genau gesagt, man hat mich wieder einmal um meinen frei-en Tag beschissen.«
Der Doktor ging schnurstracks zu dem abgedeckten Toten, stellte seine Tasche daneben ab und zog das Laken weg. Dann machte er sich an der Leiche zu schaffen.
Kern und Lenz hatten sich wieder den Briefen zugewandt. »Oh, da ist noch ein Brief von diesem Schubert«, sagte Thomas Lenz. »Hier steht Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, wie wir Ihre Bilder, ganz offiziell mit staatlicher Genehmigung der Behörden der DDR hier ausstellen können. Ich werde Sie bald besuchen und Ihnen die Möglichkeit in allen Einzelheiten erläutern. Stellen Sie, lieber Helmut Müller-Karsten, nur schon Bilder für eine Ausstellung zusammen, damit wir dann zügig zu Werke gehen können. Blablabla … Ihr Dieter Schubert .«
»Du mit deinem ewigen Blablabla«, sagte Barnaby Kern unwirsch.
»Ich kann auf Anhieb keine Verletzungen feststellen und, wenn ich mich nicht ganz irre, auch keinerlei toxische Einwirkungen. Aber Genaues erst nach der Obduktion.«
»Todeszeit?«
»Die Leichenstarre ist fast vorüber … Vor ungefähr drei Tagen plus minus.«
»Wie stellen Sie das so genau fest, Doktor?«, fragte Lenz.
»Etwa ein bis zwei Stunden nach dem Tod werden die Muskeln unbeweglich. Ihre Energiespeicher sind nahezu aufgebraucht.
Ohne Blutzirkulation und damit ohne Sauerstoff können sie nicht neu aufgefüllt werden. Die Muskelfasern verhaken sich, die Totenstarre, Rigor mortis, setzt ein. Die Leichenstarre beginnt beim Menschen an den Lidern, der Kaumuskulatur und den Muskeln der kleinen Gelenke. Dann breitet sie sich innerhalb von etwa acht Stunden über Kopf, Rumpf und Extremitäten fortschreitend nach unten aus. Die Starre hält bis zu vier Tagen an und löst sich dann wieder. Die Muskeln erschlaffen in der gleichen Reihenfolge, in der sie erstarrt sind.«
Der Doktor telefonierte nach einem Leichenwagen, der den Toten ins Rechtsmedizinische Institut in die Fetscherstraße 74 brachte. Dann verabschiedete er sich und war ebenso schnell verschwunden, wie er gekommen war.
»Willst du nicht die Tatortgruppe des LKA benachrichtigen?«, Lenz.
»Nein. Wir haben einen alten Mann, der wahrscheinlich eines natürlichen Todes gestorben ist und durchgewühlte Arbeitsräume, die darauf hinweisen, dass irgendwer irgendwas gesucht hat, möglicherweise, um sich daran zu bereichern. Warten wir, was die Spurensicherung ergibt.« Die Männer verließen die Wohnung.
»Wir werden jetzt Klinkenputzen gehen«, sagte Barnaby Kern. »Alle, die nach der Seite oder hinten raus wohnen, müssen befragt werden, ob ihnen in den letzten Tagen etwas aufgefallen ist. Oft stehen Menschen am Fenster, weil sie nicht schlafen können oder neugierig sind, wenn sich etwas Ungewöhnliches an ihrem Haus tut.« Er wies beim Rausgehen einen der Polizisten an, dafür zu sorgen, dass niemand die Wohnung zu betreten hatte, während sie im Haus arbeiteten. Dann verschwanden die beiden Männer im Vordereingang.
Als sie am Nachmittag wieder im Präsidium in der Schießgasse waren, meldete sich der Streifenwagen aus Bischofswerda per Funk. »Östergard. Herr Kern, es ist niemand auf dem Grundstück in Bischofswerda anwesend. Auch die Nachbarn haben seit dem Wochenende niemanden mehr gesehen.«
»Fahren Sie bitte die Frau nach Dresden-Coschütz. Ich darf mich bedanken und wünsche Ihnen einen schönen Feierabend.”
Einen Augenblick dachte Kern nach. Bis Montag würde er warten. Tauchte dann dieser Vester nicht auf, müsste nach ihm gefahndet werden.
Der neue Tag schien Barnaby Kern Recht zu geben, die Ermittlungsgruppe des LKA nicht alarmiert zu haben. Zuerst brachte Hauptkommissar Maximilian Slupinski den Bericht der Spurensicherung. Obwohl der Anblick in den Arbeitsräumen des Malers grauenvoll schien und er im ersten Augenblick geneigt war, an eine Verwüstungsorgie zu glauben, musste er sich revidieren. Die Schäden hielten sich in Grenzen. Die Bilder hätten zwar wild durcheinander auf dem Boden gelegen, aber nur ein einziges davon sei vorsätzlich zerstört worden. Slupinski legte ein Foto vor. Es zeigte eine zerstörte Lithografie. Auf ihr war das Bildnis einer Frau sichtbar, deren Gesicht herzartig unter einem Hut hervorlugte. »Es sind zwei Dinge zerstört worden, die unmittelbar miteinander zu tun haben«, sagte Slupinski, »diese Lithografie und«, er legte ein zweites Foto auf den Tisch, »diese Druckplatte.« Als Barnaby Kern fragend die Schulter hob, ergänzte er: »Die Druckplatte diente zur Herstellung genau dieser Lithografie.«
»Und so eine Platte kann man so einfach zerbrechen?«
»Sie ist nicht aus Metall, Barny. Das Wort Lithografie kommt aus dem Griechischen und heißt nichts anderes als Steinschrift. Die Technik wurde von Senefelder 1798 erfunden. Das Bild wird mit fetthaltiger Farbe auf den Lithografiestein aufgetragen, die Partien des Steins, die keine Zeichnung enthalten, werden so präpariert, dass sie keine Farbe annehmen. Meister der Lithografie waren Goya oder Géricault mit seinen imposanten Pferdebildern, Eugéne Delacroix, Daumier, der bekannte Impressionist Manet, Toulouse-Lautrec …«
»Das ist der mit den Cancan-Mädchen?«
»Richtig Barny, genau der. Bonnard und der Norweger Edward Munch – um nur die bekanntesten von ihnen zu nennen.”
»Wie lässt sich denn ein Stein so einfach zerbrechen?«
»In der Regel besteht dieser Stein aus kohlensaurem Kalk-schiefer. Wird er kräftig über eine Kante geschlagen, bricht er leicht auseinander. Es kommt auf die Stärke des Steins an.«
»Schön. Aber was schließt du daraus?«
»Nachdem ich alles analysiert habe, sämtliche Schäden, die rote Farbe an den Wänden, die so aufgebracht war, dass nicht wirklich etwas zerstört wurde, das Gesamtbild und die Tatsache, dass eine Briefbörse mit einer erheblichen Summe unangetastet blieb, obwohl diese nicht zu übersehen war, glaube ich, dass hier etwas vorgetäuscht werden sollte. Ich weiß nur nicht, was.«
»Wie viel war in dem Portemonnaie?«
»Achthundertzweiunddreißig Mark und vierundvierzig Pfennige. Und einige Münzen aus Polen«, sagte Slupinski, nachdem er in seine Unterlagen geschaut hatte.
»Vortäuschung einer Straftat.« Kern rieb sich das Kinn. »Wer kommt da infrage? Zum Beispiel der Stiefsohn des Malers, dieser Vester, der wie vom Erdboden verschwunden scheint?«
Kurz nachdem Slupinski wieder gegangen war, wählte Kern die Nummer der Medizinischen Fakultät der TU Dresden und ließ sich mit Rechtsmediziner Dr. Johannes Bahrmann verbinden. Von ihm erfuhr er, dass Helmut Müller-Karsten eines natürlichen Todes gestorben war. Seine Diagnose lautete Tod durch Entkräftung. Allerdings habe der Mann aufgrund eines Oberschenkelhalsbruches wahrscheinlich einige Tage ohne Hilfe auf dem Erdboden verbracht. Unfähig, sich fortzubewegen, war er praktisch verdurstet. Nur diese Tatsache wäre untersuchungswürdig.
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