»Sie haben recht.« Leistner ging zur Tür.
»Sie hatten den Mann doch auch schon in der Mangel«, sagte Carmen Jacobi. »Was haben Sie für einen Eindruck gewonnen, Herr Hauptkommissar?«
»Schwer zu sagen.«
»War er es? Hat er den Einbruch begangen und die Bilder beschädigt?«
»Wenn Ihre Abteilung keine Erkenntnisse dazu hat, wird er nur allein wissen, wie es war. Alles andere ist Spekulation.«
Die Frau ärgerte sich, Barnaby Kern gefragt zu haben. Eine Belehrung war das letzte, was sie gebrauchen konnte. Kern merkte, dass sie beleidigt war, und sagte versöhnlich: »Wir lernen immer noch dazu. Ich habe auch schon manchmal gedacht, einen Täter dingfest gemacht zu haben, und dann musste ich feststellen, dass ich mich geirrt hatte.«
Die Tür zum Vernehmungsraum ging auf, und Leistner jonglierte das Tablett in den Raum. Moebus schaute ihn erstaunt an, und sie sahen, wie er ihm mit den Augen ein Zeichen zum Spiegel gab. »Trinken Sie in Ruhe«, sagte Moebus. »Ich bin gleich zurück. Dann machen wir weiter.«
Als Moebus in den Raum hinter der Spiegelscheibe kam und Kern entdeckte, sagte er: »Du hörst wohl das Gras wachsen, Barnaby. Oder hat dich einer meiner Mitarbeiter alarmiert?« Sie gaben sich die Hand.
»Das Tagesbulletin ist schuld, Günter, und mein Lenz, der es gelesen hat und mich aufmerksam machte.«
»Und? Was hältst du von dem Kerl?«
»Deine Kollegin hat mich schon danach gefragt. Mein Bauchgefühl sagt, dass er etwas damit zu tun haben muss. Mein Verstand sagt, dass wir derzeit nichts gegen diesen schmierigen Kerl in der Hand haben. Es sei denn …«
»… Ich bekomme noch etwas aus ihm heraus. Aber das ist sehr zweifelhaft.«
»Wo hat er denn das Wochenende verbracht?«
»Am Sonnabend beim Billardspiel. Am Sonntag in Schiebock.« Moebus benutzte den Spitznamen Schiebock. Wer in der Oberlausitz »Schiebock« sagt, meint Bischofswerda. Ein Schiebock ist zunächst einmal ein schubkarrenähnliches einrädriges Gefährt, mit dem einst Bauern und Handwerker Ende des acht-zehnten Jahrhunderts ihre Waren von Ort zu Ort fuhren. Sinn-vollerweise wurden an Markttagen die Waren auch meist gleich direkt vom Schiebock verkauft. Eine praktische Angelegenheit, die eigentlich auch heute noch genutzt wird. Allerdings werden die Waren nicht mehr mit dem Schiebock auf die Märkte gefahren – das Auto hat dem handlichen Karren längst den Rang ab-gelaufen: Bäcker, Fleischer, Fischhändler usw. verkaufen ihre Waren vom Auto aus, mit dem sie sie vorher auf den Markt gekarrt haben.
Für die jüngeren Bischofswerdaer hat dieser Name nicht mehr den negativen Beigeschmack, den die Älteren vielleicht aus Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern noch empfinden. Mittlerweile ist der Name »Schiebock« mit Bischofswerda fest verbunden, und das Gefährt Schiebock stellt ein symbolisches Wahrzeichen der Stadt dar.
»Wo hat er Billard gespielt?«
»In Blasewitz.«
»Blasewitz und Striesen liegen direkt nebeneinander.«
»Ja.«
»Und am Sonntag war er in Bischofswerda?«
»Das behauptet er.«
»Stelle fest, wann man ihn dort gesehen hat. Ich muss wieder hoch in meine Abteilung.«
»Warte noch einen Augenblick. Vielleicht kriegen wir ihn ja jetzt.« Er wartete die Antwort Kerns nicht ab, sondern verließ den Raum.
Als er wieder vor Thomas Vester saß, fragte er: »Wie war das am Sonnabend, Sie haben Billard gespielt.«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich war in der Krone in der Heinrich-Schütz-Straße, wo wir uns ab und zu treffen, um ein Spielchen zu machen.«
»Da haben Sie sicher eine Menge Zeugen.«
»Natürlich. Einen Rechtsanwalt …«
»Name?«
»Blaschke. Egon Blaschke. Und Heinz Scholz. Scholz ist Drechsler. Er hat seinen Betrieb nahe dem Schillerplatz in der Tolkewitzer Straße. Und der Wirt. Der kann auch bezeugen, dass ich dort war.«
Moebus schrieb sich das auf. »Und Sonntag?«
»Gegen acht hat mich mein Freund Hild mit seinem Auto ab-geholt, und wir sind in meinen Garten nach Bischofswerda gefahren. Und dafür gibt es sicher eine Menge Zeugen, denn wir hatten eine Auseinandersetzung mit einem anderen Autobesitzer, der unverschämterweise die Einfahrt zu meinem Grundstück blockierte und auch noch glaubte, er sei im Recht. Das haben einige Nachbarn mitbekommen.«
Ich werde das Gefühl nicht los, dachte Barnaby Kern, dass der Bursche die ganze Sache gut durchgeplant hat. Jedermann sollte sich daran erinnern, dass er zu dieser Zeit an diesem Ort war. Moebus würde eine Menge Nachprüfungen anstellen müssen. Kern spürte, dass er eine Zeit zum Nachdenken brauchte, die er in seiner Abteilung im Präsidium nicht haben würde. Er sagte Inka Löbl Bescheid, die das Büro besetzt hielt, während die anderen Mitglieder der Gruppe zum Essen gegangen waren, dass er ein oder zwei Stunden unterwegs sein würde, und fuhr nach Blasewitz. Vor der Gaststätte Krone blieb er einen Augenblick sitzen und schloss die Augen. Es war nicht eben die feine Gegend wie auf dem Weißen Hirsch, und auch Striesen mit seinen großen Stadtvillen war eine andere Liga. Hier war es anders. Jenseits der Tolkewitzer Straße zur Elbe hin standen einige Einfamilienhäuser. Die Heinrich-Schütz-Straße hatte in Mehrzahl die langen Häuserzeilen mit den relativ kleinen Wohnungen, die in den zwanziger und Dreißigerjahren gebaut wurden. Es war das, was man eine Arbeitergegend nannte. Direkt hinter der Krone lag ein großer Straßenbahnhof, der auch als Ausbesserungswerk galt. Barnaby Kern stieg aus. Die Gastwirtschaft war seit einer Stunde geöffnet. Nur wenige Leute saßen bei einem Bier oder ließen sich ein Essen bringen. Es war die typische Hausmacherkost, die hier angeboten wurde. Kern ging zum Wirt, der hinter dem Tresen Bier zapfte, und fragte: »Kennen Sie einen Blaske?«
»Blaschke! Schschsch … Wer will denn das überhaupt wissen?«, fragte der Mann in breitem sächsischen Dialekt.
Kern hielt dem Wirt seinen Ausweis hin, sagte aber nichts, um die Aufmerksamkeit der Leute nicht auf sich zu ziehen. »Fahren Sie die Straße zurück, über die Tolkewitzer in die Verlängerung der Heinrich-Schütz-Straße. Auf der linken Seite ist ein Einfamilienhaus im Bauhausstil, ein Kasten von Gropius oder Mies van der Rohe. Es ist das einzige dieser Art, also können Sie es nicht verfehlen.« Barnaby Kern bedankte sich für die präzise Auskunft.
Der Wirt hatte recht. Das Haus lag keine zweihundert Meter von der Kneipe entfernt. Er sah den Kasten schon von der Ecke aus. Als er die Tolkewitzer Straße überquert hatte, lag die Elbe direkt vor ihm. Er fuhr die wenigen Meter bis hinunter zum Wasser und sah, wie sich der Fluss mit seinem schmutzig grau-braunen Wasser dahinwalzte. Er wendete und stellte seinen Wagen direkt vor dem Eingang des Hauses ab. Auf sein Klingeln wurde eine Gardine zurückgezogen. Als man festgestellt hatte, dass tatsächlich jemand vor der Tür stand, kam ein älterer Mann zum Zaun. Interessiert schaute er Kern an. »Ja, bitte?«
Kern zog wieder seinen Ausweis und fragte: »Sind Sie der Anwalt Blaschke?«
»Die Polizei! Ja, der bin ich. Allerdings im Ruhestand.« »Ich hätte ein paar Fragen an Sie.«
»Wollen Sie nicht reinkommen?« Der Mann öffnete die Pforte und ging mit Kern zum Haus.
»Eigentlich ist das gar nicht nötig. Ich brauche nur eine Auskunft von Ihnen.«
Im Eingang begegneten sie kurz der Ehefrau des Mannes. Sie gingen ins Wohnzimmer, und Blaschke bot Barnaby Kern einen Platz an.
»Sie gehen hin und wieder in die Krone, um mit Freunden Billard zu spielen«, begann Kern.
»Nicht nur Billard. Manchmal dreschen wir auch einen zünftigen Skat. Aber es wird immer seltener. Früher war es alle zwei Wochen. Heute maximal einmal im Monat, wenn überhaupt. Meist telefonieren wir uns kurzfristig zusammen.«
Die Frau steckte den Kopf herein und fragte, ob sie einen Tee bringen könne.
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