Um Simone nicht zu ängstigen, lacht Hanna leise bei ihrem nächsten Satz: „Aber dann kommt so ein innerer Rabauke, und aus ist es mit dem Musterkind? Könnte es so sein?“
„Sie sind ja lustig!“ Über Simones Gesicht huscht ihr Spottlächeln. „Das .... gefällt mir.... da könnte was dran sein.“
„Die Rabauken, das sind im Fachjargon die aggressiven seelischen Impulse. Solange sie ungehindert durchkommen, beherrschen wir uns selbst noch nicht genügend.“
„Dann wäre ich.... nicht so viel schlechter als die Anderen? .... Kann ich nicht glauben.... nein ....“
Fr 5.3.93 Gesprächsnotizen von Hanna Leider
Simone Maurer schildert folgenden Traum: Sei auf einen Baum geklettert, um vor Menschen sicher zu sein. Der Ast, auf dem sie saß, sei abgebrochen. Sie sei in kalte Asche gefallen und erstickt.
Deutung im Hier und Jetzt. Der Baum bin ich, die Therapeutin. Ich könnte Rettung und Hilfe bedeuten, aber Simone kann mir nicht vertrauen. Beim Gespräch über ihre Beziehung zu mir war Simone recht einsilbig.
Hannas Kladde:
6.3.93 22 Uhr Von Kindheit an gefährliche pathologische Verhaltensmuster. Ungleichgewicht zwischen Ich, Es und Über-Ich. Chaos mit Dominanz des sadistischen Über-Ichs. Das Ich ist schwach geblieben und kann die aggressiven Impulse des Es nicht scharf genug bremsen. Automatisch folgt antisoziales Verhalten (Katzenmord, Mauerstoß, zerschlagene Fensterscheiben). Dann Gewissensnot mit Strafträumen.
Menschliche Beziehungen und die gesamte soziale Wirklichkeit erlebt sie chaotisch verdreht. Diffuse Ängste betäuben jede Vernunft. Ihre Sozialfilter funktionieren primitiv nach dem Schwarz-weiß- und Gut-Böse-Prinzip.
Simone M. sucht Schutz bei uns. Sie leidet hellbewusst an Angst in allen Graden und an unkontrollierten Aggressionen. Ist sie auch in der Lage, die Hilfe, über die wir verfügen, aktiv anzunehmen und zu verarbeiten? Bis jetzt macht sie eher passiv mit. Über ihren Umgang mit Enttäuschungen hat sie gar nicht erst versucht nachzudenken. Ich fürchte weniger ihren Widerstand als um ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur Innenschau. Das wäre der beobachtende Ich-Anteil in Funktion. Erst wenn sie das Wissen, das ich ihr gebe, aktiv aufnimmt und es mit ihren eigenen Erfahrungen verarbeitet, kann sie vorankommen, Lösungen selbst erkennen. Das Nachreifen solcher Fähigkeiten vollzieht sich langsam, mühselig, könnte Jahre brauchen. Aus Simones zeitweise wachem Interesse in den Stunden hoffe ich, dass sie dennoch profitiert. Will ihrem Ich Hoffnung geben, Kraft zuführen. Es bestätigen, wo es geht. Kernberg dazu aber skeptisch.
Mo 8.3.93 Gespräch mit Hanna Leider
„Nach allem, was Sie gesagt haben und nach Ihrem Verhalten scheint Angst Ihnen am meisten zu schaffen zu machen. Wann und wo haben Sie Angst?“
„Immer .... überall.“
„Ist die Angst in ihrer Intensität immer gleich oder doch wechselnd?“
„Wechselnd.“
„Und wann ist sie am intensivsten?“
„Wenn ich allein bin.“
„Allein im Wald haben viele Menschen Angst oder Unbehagen. Haben Sie auch Angst allein in der eigenen Wohnung?“
„In der Wohnung, auf der Straße, überall.“
„Was machen Sie dann?“
„Ich setze mich ins Auto und fahre los. Nachts sind die Straßen frei. Wenn ich dann schnell fahre, so 160 Sachen, dann bin ich abgelenkt.“
„Ist das nicht ein bisschen gefährlich? Wird Ihnen da nicht auf andere Weise mulmig?“
„Anfangs vielleicht, aber irgendwann bin ich richtig high, dann geht es mir gut.“
„Also ein Kick gegen die Angst. Und wie ist es, wenn Sie auf der Straße gehen am Tage, dann sind Sie ja meist nicht allein?“
„Den Menschen auf der Straße weiche ich aus. Die Menschen sind schlecht, vor denen habe ich Angst.“
„Sind Sie schon mal auf die Idee gekommen, dass diese Menschen so ähnlich sein könnten wie Sie und ich?“
„Nein. Die grinsen mich höhnisch an. Die sind gefährlich und voller Hass.“
„Sie meinen, alle Menschen haben etwa so eine Menge Hass in sich wie Sie und könnten Sie einfach so angreifen?“
„Komisch, wie Sie das so anders herum ansehen.... ich bin voller Hass.... und vor mir hat keiner Angst.... Kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen friedlich sind.“
„Trauen Sie keinem freundlichen Gesicht, keinem freundlichen Wort?“
„Ich denke, das ist gespielt. Die sind falsch.“
„Meinen Sie, ich sei Ihnen gegenüber voller Hass und Aggressionen?“
„Im Moment nicht. Aber zu Anfang denke ich immer, Sie sind mir böse.“
„Nein, bin ich nicht. Ich versuche Sie zu verstehen. Und ich mag Sie recht gerne, merken Sie das nicht?“ Simone richtet statt einer Antwort unsichere große Augen auf die Therapeutin. Hanna will Simone Vertrauen einflößen und spricht jetzt langsam weiter.
„Ich bin Ihnen doch nicht böse, warum? Für das Durcheinander in Ihrer persönlichen Entwicklung können Sie nichts. Auch wenn Sie mich wie alle anderen Menschen verzerrt sehen sollten und finden, ich wäre böse. Das nehme ich nicht persönlich.“ Will Simones Selbstbewusstsein stärken.
„Ich bin Ihnen gegenüber neutral. Ich kann Ihre Wut aushalten. Ich wäre selbst dann nicht sauer, wenn Sie Fehler oder Unsinn machten. Am besten wäre es, wenn Sie einfach über Ihre Wut reden.“
„Kann ich nicht.“
„Worüber sind Sie wütend, jetzt?“
„Bin jetzt nicht wütend.“
„Könnte es sein, dass Sie Ihren Hass den anderen selbst erst aufprägen?“
„Wie meinen Sie das?“
„Nun, Sie kennen nur sich. Ihre Eltern haben Sie nicht als liebevoll erlebt. Freunde haben Sie nicht. So scheint Ihnen jeder andere Mensch ebenfalls voller Hass, damit also böse und gefährlich zu sein. Sie kennen ihn nicht und haben keinen Vergleich aus dem Zusammensein mit Freunden. Stattdessen projizieren Sie Ihren Hass von Ihrem Ich auf Ihre Vorstellung vom Ich eines anderen, zum Beispiel auf der Straße. Hoppla, war das zu kompliziert? Vielleicht habe ich mich nicht genau genug ausgedrückt.“ Simone sitzt ein wenig abwesend da. Es ist fraglich, ob sie verstanden oder überhaupt zugehört hat.
„Frau Maurer, hallo! Haben Sie zugehört?“
„Och .... ich weiß nicht.“
„Ich habe eben versucht etwas zu erklären. Projizieren ist übertragen. Man projiziert ein Bild, auch ein Foto, auf eine Leinwand.“ Simone gähnt verhalten. Hanna lässt sich nichts anmerken.
„Nun sind wir wieder abgekommen von der Angst. Wie geht es Ihnen, wenn Ihre Tochter da ist?“
„Tageweise fällt es mir schwer, sie zu drücken. Habe Angst, dass sie mir zu nahe kommt“.
„Ist Ihnen ihre Nähe manchmal unbehaglich?“
„Mmh .... ich glaube, ja.“
„Geht es Ihnen mit anderen Verwandten ähnlich?“
„Ja, na sicher.“
„Gegen diese Näheangst kommen Sie wohl nicht an. Aber was fühlen Sie, wenn sich Ihre Tochter an Sie kuschelt?“
„Nicht so viel .... Habe wenig Gefühl .... Auch aus Angst, enttäuscht zu werden .... Meine Tochter kam eigentlich ungewünscht.... Als sie dann da war, habe ich sie geliebt. Aber dieses Gefühl halte ich nicht lange durch.“
„Empfinden Sie Ihre Tochter als einen Teil von sich?“
„Ja, zeitweise. Aber meist fällt mir dieses.... Fühlen sehr schwer.“
„Als Sie so klein waren wie Ihre Tochter, haben Sie da versucht, Ihre Mutter zu umarmen, zu drücken? Haben Sie gelernt, so ein Nähegefühl als Wohlsein und Behagen zu erleben?“
„Nicht so richtig, glaube ich.“
„Haben Sie gemerkt, dass Ihnen etwas fehlt?“
„Ich habe mich immer ausgeschlossen gefühlt. Habe die anderen beneidet.“
„Um was beneidet?“
„Die konnten sich freuen, die hingen zusammen, lebten einfach. Da hatte ich keinen Zugang.“
„Haben Sie eine Freundin oder einen Freund?“
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