Fragt, ob ich alle verringern könnte. Schreibe ‚nicht’ neben Oxza, ‚ja’ neben Prota und Insidon. Wo ich die vielen Tabletten her habe? Zeige ihr drei Rezepte über 100 Tabletten von jeder Sorte. Sie hat gar nicht darauf reagiert, dass ich sie verschiedenen Ärzten abgeluchst habe. Aber dann sagte sie, jetzt dürfte ich nur die Medikamente von der Tagesstation einnehmen. Ich habe ihr die Rezepte gegeben. Bin ich blöd!
Mi 24.2.1993
Schon wieder ein Gespräch. Gebe den Lebenslauf ab, habe schnell geschrieben, was mir einfiel, nur Schlechtes. Sie hat alles gleich durchgelesen. Sich Notizen gemacht. Sie nimmt mich ernst! Wirklich. Zu meinen Eltern quetsche ich heraus, dass ich sie hasse. Dann kann ich nicht mehr sprechen, wieder Zettel. Sie wollte wissen, wie der erste Tag auf Station verlaufen ist. Es war schwer, mit den anderen in einem Raum zusammen zu sein. In der Gruppe war ich 15 Minuten, dann musste ich raus. Sie erklärt mir den Sinn von Stationsausflügen. Klingt mir ein bisschen zu schön. Diese Woche gehen alle zum Kegeln. Find ich blöd. Ich traue mich nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Habe Angst vor Kellern, das Kegeln soll aber oben sein, im Hellen.
Fr 26.2.1993
Zettel an Schwester Oda: ‚Ich kann nicht zu der Ärztin, ich habe Angst!’
Habe ein schlechtes Gewissen, das schreibe ich nicht. Schon bin ich im Arztzimmer. Gebe ihr gleich einen Zettel von heute früh, musste das schreiben.... Bin so durcheinander ....
‚Ich war gestern bei meiner Psychologin in der Friesenstraße. Ich glaube ich habe mich total übernommen hierher zu kommen. Eine Ewigkeit brauche ich, ehe ich durch den langen Gang komme. Die Angst ist einfach zu groß, kann nicht dagegen ankämpfen. Zu lange lebe ich schon isoliert, ich habe vor allem Neuen Angst. Ständig habe ich Selbstmordgedanken, weil ich mein Leben nicht packe. Für mich ist es schon ein Fortschritt, ganz allein hierher zu kommen, ohne dass mich jemand zwingt Dinge zu tun, die ich nicht möchte. Seit 3 Monaten kann ich kaum was essen, vor jedem Essen bin ich schon satt, mit Müh und Not zwinge ich mir was rein. Mir geht es zwar weitaus schlechter, aber wie Sie sehen, habe ich die Woche doch ganz gut über die Runden bekommen. Vor dem Wochenende habe ich Angst. Meine Tochter ist ab heute Abend nicht da, ich habe Angst, dass ich wieder was anstelle’.
„Dann bleiben Sie am Wochenende am besten hier mit Übernachten in einem Urlauberbett!“
„Muss ich dann auf eine andere Station?“
„Das ist leider nicht zu vermeiden. Die Tagesstation ist am Wochenende nicht offen.“
„Nein, auf eine andere Station gehe ich nicht.“
„Sie müssen ja nicht, das war nur ein Angebot. Haben Sie auch zu Hause Angst, wenn Sie allein sind?“
„Mmh, ja.“
„Aber Sie wollen lieber die Angst zu Hause ertragen als auf eine neue Station?“
„Ja“.
„Wie lange sind Sie jetzt schon krankgeschrieben?“
„Seit 8 oder 9 Monaten“.
„Sie arbeiten als Kindergärtnerin?“
„Ja.... im ‚Pittiplatsch‘, so hieß er früher .... jetzt ‚Sesamstraße‘.
„Wie ging es denn so mit der Arbeit?“
„Ich musste in einen anderen Kindergarten wechseln. Meine Chefin krittelte dauernd an mir rum, was ich alles anders zu machen habe nach der Wende. Irgendwann wurde ich wütend und habe ihr an den Kopf geknallt, dass sie für die SED und die Stasi gearbeitet hat. An die neuen Kollegen kann ich mich nicht gewöhnen. Die können mich nicht leiden. Die lassen mich nicht so arbeiten wie ich kann.“
„Wie meinen Sie das?“
„Mit den Kindern kann ich gut umgehen. Da kann ich reden und Spaß machen. Die haben mich auch lieb. Aber mit den Eltern kann ich nicht reden. Da haben mir früher die Kollegen geholfen. Die neuen interessiert das nicht. Wenn ich das nicht packe, dann wollen die mich weg haben.“ „Wenn Ihnen die Arbeit mit den Kindern solchen Spaß macht und die Kinder Sie brauchen, meinen Sie nicht, dass Sie es dann mit den Eltern wenigstens versuchen sollten?“
„Wenn ich wieder zu dieser Arbeit muss, nehme ich mir den Strick!“
„Sie wissen vermutlich selbst, dass Sie jetzt überzogen reagieren.“
„…. “
„Sie haben Probleme bei der Arbeit und mit Ihren Eltern.“
„Ja.“
Langsam spricht die Therapeutin weiter.
„Ich muss Sie und die Entwicklung Ihrer Störung gründlicher kennen lernen. Erst nach und nach werden wir beide Ihre Symptome ausreichend erfasst haben. Wenn die Diagnose einigermaßen sicher ist, kommt eine analytisch orientierte Psychotherapie in Frage.“
„Was ist das?“
„Eine auf dem Wissen über unsere innerseelische Struktur basierende Gesprächstherapie. Über die einzelnen Hypothesen, also wissenschaftliche Annahmen, gebe ich Ihnen in den jeweiligen Gesprächen Auskunft. Wären Sie unter dieser Bedingung einverstanden?“
„Ja.“
„Wenn in einigen Wochen das Wichtigste geklärt ist, werden wir über die Fortführung oder eine zusätzliche Behandlung sprechen.“
„Ich hab nicht gedacht, dass das so kompliziert ist.“
„Was wissen Sie über Ihre Diagnose?“
„Hm .... eigentlich nichts.“
„Zunächst kann ich nur die Vermutung Ihrer Ärztin für ziemlich wahrscheinlich halten, nämlich, dass Sie an einer Persönlichkeitsstörung mit der Bezeichnung Borderline leiden. Deutsch heißt das einfach Grenzfall, im Grenzbereich.“
„Grenze?“
„Gemeint ist, im Grenzbereich zwischen mehreren Krankheiten.“
„....?“ Simone seufzt beeindruckt.
„Am besten, wir klären die Zusammenhänge dann, wenn Störungen, Probleme oder Symptome auftauchen.“
„....“ Zweifelnder Blick.
„Nun muss ich Sie noch über die Folgen aufklären. Erst der zu erwartende Nutzen: die Beseitigung oder Minderung von Angst, von Unsicherheit, aber auch von eigenen Fehlhaltungen.“
„Wie soll das gehen....?“
„Indem Sie mit ganzer Kraft mitarbeiten. Es gibt aber auch ein Risiko: Ihr Zustand kann sich verschlechtern: wenn Sie etwas falsch verstehen und nicht darüber sprechen oder etwas Wesentliches verbergen. Wichtig ist also, alle Angaben wahrheitsgemäß zu machen und nichts Wesentliches zu verschweigen.“
„.... “
„Ich denke, wir sollten drei, höchstens vier Mal in der Woche jeweils eine Stunde miteinander sprechen.“
„So viel?“
„Sie werden bald merken, wie schnell eine Stunde vergeht.“
„Was soll ich da machen?“
„Zum Beispiel frei und offen reden über alles, was Ihnen wichtig ist. Und über alles, was Ihnen in den Sinn kommt und was Sie zu Hause, unterwegs oder auf Arbeit beschäftigt. Es kommt darauf an, dass Sie offen und ohne Rückhalt reden. Nichts verschweigen. Auch wenn es Ihnen peinlich ist oder nebensächlich vorkommt.“
„Hm ....“
„Ich denke, Sie werden zurechtkommen. Mit dem sozialen Training fangen Sie sofort an. So gut Sie können, nehmen Sie an allen Gruppentherapien teil. Es fällt Ihnen noch ein wenig schwer, nicht wahr? Aber das geht am Anfang der Behandlung allen so.“
„ .... “
„Für heute ist es genug. Sie werden das alles erst verarbeiten müssen. Dann sehen wir uns am Montag nach der Visite wieder. Auf Wiedersehen.“
Händedruck. Und draußen bin ich.... Konnte nicht mal widersprechen.... Bestimmen immer alles, die Ärzte.... Auf die Tagesstation wollte ich nur, weil man nachmittags nach Hause kann.... Dass die am Wochenende geschlossen haben.... blöd!
Mo 1.3. 93 Gespräch mit Dr. Hanna Leider
Hannas Arztzimmer geht nach Norden, Kammer nennt sie den knappen Raum oder auch Stall. Neben einem schmalen Schrank, einem Holzregal voller Bücher und einem winzigen Tisch, der mit Stößen von Krankenblättern, Zeitschriften und unregelmäßig gestapelten Arbeitsblättern bedeckt ist, bleibt kaum Platz für Schreibtisch, Sessel und zwei Besucherstühle. Die grün-gelb züngelnde Maranthe auf dem Fensterbrett und eine verblichene Bleistiftzeichnung an der Wand über dem Schreibtisch mildern die Krankenhausatmosphäre. Hanna sitzt am Schreibtisch, die Unterlagen der neuen Patientin Simone Maurer in der Hand. Sie konzentriert sich auf ihren ersten Eindruck von der Patientin. Äußerlich unauffällig, schüchtern, verängstigt wie ein Kind in fremder Umgebung. Allerdings kann sie auch ein werbendes Lächeln aufsetzen. Hat schon einige Therapien hinter sich. Vermutlich eine harte Nuss. Die Diagnose der einweisenden Kollegin scheint fundiert: Frühe Störung, Borderline-Syndrom. Um sicher zu sein, muss ich noch mindestens drei Eigenschaften erfahren.
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