Ilka Scheidgen
Hilde Domin
Dichterin des Dennoch
Kaufmann Verlag
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
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1. Auflage 2011, unveränderter Nachdruck
© 2006 Verlag Ernst Kaufmann, Lahr
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Umschlaggestaltung: Stefan Heß, Ehrenkirchen unter Verwendung eines Fotos von Hilde Domin. Fotografin Isolde Ohlbaum, München
© aller Fotos im Anhang by Ilka Scheidgen
Druck und Bindung: CPi Books, Ulm
ISBN 978-3-7806-3119-0
ISBN 978-3-7806-9201-6 (EPUB)
ISBN 978-3-7806-9202-3 (KINDLE)
Das vorliegende Werk basiert auf dem Quellenstudium von Hilde Domins Werken sowie auf zahlreichen im Laufe von fast zwanzig Jahren geführten Gesprächen.
Über Gedichte sind wir uns begegnet und haben miteinander korrespondiert, bevor mich Hilde Domin zu sich nach Heidelberg einlud. Für meine eigene Lyrik gab sie mir wertvolle Ratschläge. So entstand im Laufe der Jahre eine freundschaftliche Beziehung, die durch viele gemeinsame Gespräche intensiviert und lebendig gehalten wurde.
Ich konnte Hilde Domin außerdem bei zahlreichen Lesungen, Vorträgen und bei den wichtigsten Preisverleihungen persönlich erleben.
In Zeitungen und Zeitschriften konnte ich während der vergangenen Jahre viele Essays und Porträts über Hilde Domin, diese größte lebende deutsche Dichterin jüdischer Herkunft, veröffentlichen. Es ist mir eine besondere Freude, hier nun einen Gesamtüberblick über ihr Leben und Werk vorlegen zu können.
Herzlich danke ich Frau Hilde Domin für ihre Offenheit und das Vertrauen, das sie mir während unserer vielen Gespräche entgegengebracht hat, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre.
Zu meinem großen Bedauern starb Hilde Domin am 22. Februar 2006, kurz vor Erscheinen des Buches.
Kall-Urft, im Juni 2006
Ilka Scheidgen
Kindheit und Jugend in Köln
Hilde Domin und ich haben uns in ihrer Wohnung verabredet – der Wohnung mit dem herrlichen Blick auf die Heidelberger Altstadt und den Neckar. Wir sitzen wie schon oft zuvor in der gemütlichen Ecke ihres Wohnzimmers mit den Gartenstühlen. Auf dem Tisch stapeln sich Bücher, die sie geschickt bekommen hat. Sie räumt sie zur Seite und holt aus der Küche Tee und Kuchen. Wie immer ist sie eine liebenswerte Gastgeberin.
Wir werden über ihr Leben reden, ihre Erfahrungen und natürlich über ihre Dichtung. Hilde Domin erzählt anschaulich und temperamentvoll, und ich spüre, wie ihr vieles, über das sie mir berichtet, noch ganz lebendig vor Augen steht.
H
ilde Domin wurde am 27. Juli 1909 als Hilde Löwenstein in Köln geboren. Ihr Vater Eugen Löwenstein war promovierter Jurist und stammte aus einer angesehenen Düsseldorfer Juristenfamilie. Die Mutter Paula Löwenstein, geborene Trier, kam aus Frankfurt am Main. Sie hatte Gesang und Klavier studiert. Allerdings übte sie ihren künstlerischen Beruf nicht aus, sondern widmete sich, wie es zu jener Zeit in den meisten Fällen üblich war, ihrer Familie. Ein einziges Mal sei sie in der Oper in Frankfurt als „Mignon“ aufgetreten. Später konnte sie ihr künstlerisches Talent nur noch bei Hauskonzerten ausleben.
Hilde war das erstgeborene Kind. Ihr Bruder „Johnny“ wurde 1912 geboren. Hilde betont, dass sie eine glückliche Kindheit hatten. Es mangelte ihnen an nichts. Sie hatten genügend Spielsachen und konnten ihren Lesehunger nach Herzenslust in der Bibliothek des Vaters stillen, was besonders Hilde ausgiebig tat.
Selbstverständlich gab es auch Dienstmädchen. Das Essen wurde aufgetragen, wenn der Vater in der Mittagspause die Klingel bediente. Und um die Kinder kümmerte sich neben der Mutter ein Kindermädchen.
„Wenn ich mich an unsere Wohnung in Köln erinnere, in der ich ja geboren wurde“, erzählt Hilde Domin, „so kommt es mir vor, als sei sie aus einer ›temps perdu‹, ganz wie bei Proust, gewesen. Die Möbel waren aus dunkler Eiche, es gab kostbare Silberbestecke, die aber nur zu offiziellen Anlässen benutzt wurden. An den Decken hatte die Wohnung Jugendstilstuck. Das Speisezimmer war mit Eiche getäfelt und besaß zum Hof ein bunt eingelegtes Fenster. Aber am meisten liebten mein Bruder und ich die beiden kleinen Balkons und den langen Flur, auf dem man Rollschuh laufen konnte.“
Der Salon war Schauplatz von festlichen Einladungen und Konzerten, bei denen die Mutter, aber auch andere Sänger und Sängerinnen und Pianisten auftraten, während die kleine Hilde die Damen in langen Abendkleidern und Herren in Smoking oder Frack von der Küche aus beobachtete.
An Wochenenden oder in den Ferien fuhr die Familie zum Wandern oft in die Eifel. Dort durfte Hilde als Kind sogar Ziegen hüten und Kühe melken. Für Tiere jeder Größe und jeder Art hatte sie immer viel übrig.
„Wir durften im Kinderzimmer auch selbst Tiere halten“, erzählt sie. „Katzen, eine Taube, einen Papagei, Kaninchen, die dann im Sommer auf die kleinen Balkons ausquartiert wurden und sich meistens nach einer gewissen Zeit ›sozusagen selbst abschafften‹, indem der Vater sie den Kindern des Bürovorstehers schenkte, weil der am Rande von Köln wohnte und einen kleinen Garten besaß.“
Hilde durfte Freunde und Freundinnen mit nach Hause bringen. Sie durfte ins Theater, ins Museum und ins Schwimmbad. Sie durfte sogar manchmal mit dem Vater ins Gericht gehen. Besonders beeindruckt sei sie von einem Prozess gewesen, bei dem ihr Vater einen Unschuldigen verteidigte, der der Brandstiftung angeklagt war. Um den Verhandlungen beiwohnen zu können, schwänzte sie die Schule. Und sie bestärkte und ermunterte den Vater darin, diesem Mandanten durch alle Instanzen zu seinem Recht zu verhelfen.
„Ich sehe den Vater noch, wie er am Abend nach einer Gerichtsverhandlung krank im Bett lag, krank vor Aufregung, weil er Drohbriefe erhielt, und wie meine Mutter dafür war, es aufzugeben – aber er konnte mich einfach nicht enttäuschen, und hätte es unsere gesamte Existenz gekostet“, beschreibt sie in dem Aufsatz „Mein Vater. Wie ich ihn erinnere“ diese Geschichte. Der Vater reichte ein Gnadengesuch ein und erwirkte für seinen Mandanten den Freispruch. Dieser Mann sei dann einer der ersten gewesen, der nach 1933 aufhörte, den Vater – als jüdischen Rechtsanwalt – zu grüßen.
Damals, als man begann, jüdische Rechtsanwälte auf erniedrigende Weise auf Müllwagen durch Köln zu fahren, entschloss sich der Vater zur ersten und einzigen „ungesetzlichen“ Tat in seinem Leben: Die Eltern fuhren mit der Straßenbahn bis zur belgischen Grenze, machten einen kleinen Spaziergang hinüber – das war nicht verboten – und draußen waren sie. Es war der Beginn ihrer Flucht, die sie nach England führte.
Das Mobiliar wurde von einem Spediteur nach Holland gebracht und dort eingelagert. Doch die kostbaren Möbel aus schwarzer Eiche, das wertvolle Porzellan, das Silber und auch viele wertvolle Bücher gingen im Laufe des Krieges, wie Hilde mir erzählt, „still und leise“ verloren.
Aber sie scheint darüber nicht verärgert oder traurig zu sein. „Ich hänge nicht an Gegenständen“, sagt sie schlicht. Während ihres Unterwegsseins hat sie das „Haben“ verlernt, „als hätte ich nicht mehr die Hände zum Haben“, wie sie einmal schreibt. Was für die meisten Menschen, die nie ihre Heimat, ihr Zuhause verloren haben, ganz selbstverständlich ist, nämlich etwas zu besitzen, ist ihr noch immer nicht zur Normalität geworden.
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