„Die Frage war, wie Sie mit einer Enttäuschung umgehen.“
„Ja.“
„Haben Sie darüber nachgedacht?“
„Nnein....“
„Vorgestern haben Sie gesagt, Sie würden mit Wut reagieren und sich zurückziehen. Und was denken Sie dann?“
„Dass meine Mutter .... oder die anderen .... eben besonders blöd sind.“
„Was ist denn blöd an Ihrer Mutter oder den Anderen?“
„Die sind lästig.... Immer Vorschriften, immer Meckern. Verstehen mich nicht.“
„Die Menschen sind nicht immer leicht zu ertragen. Was für eine konkrete Enttäuschung fällt Ihnen ein, die Sie nicht vergessen können?“
„Ich durfte nicht mit auf eine Klassenfahrt. Das war in der 5.Klasse, glaube ich.“
„Warum nicht?“
„Ich hatte was ausgefressen. Die Lehrerin hat es meiner Mutter gepetzt.“
„Wollen Sie darüber reden?“
„Die anderen ließen mich nicht mitmachen, wenn sie mit einer Katze spielten. Da habe ich die Katze gefangen.... und umgebracht. Sie haben sie gefunden und auch gleich gewusst, wer das war.“ Ziemlich intensives Rachepotential für ein Mädchen. Will sie aber nicht erschrecken.
„Sie fühlten sich von den Kindern enttäuscht. Verstehen Sie jetzt, als Erwachsene, was Sie damals gemacht haben?“
„Ich war wütend. …. Habe meine Wut an der Katze ausgelassen.“
„Hhm .... Haben Sie irgendwann mal mit Ihrer Mutter über diesen Vorfall reden können?“
„Nein.“
Hanna überlegt. Kränkungen kann sie nicht ertragen.
„Ich denke, wir sind bei dieser Geschichte auf ein zentrales Problem gestoßen. Später werden wir daran arbeiten müssen.“ Simone entspannt sich sichtlich, dass sie diese unangenehme Erinnerung loslassen kann. Hanna aufmunternd:
„Lassen wir die schweren Brocken. Wovon wollen Sie heute berichten?“
„Ich träume so viel, fast immer. Manchmal habe ich Angst ins Bett zu gehen, weil im Traum immer nur Schlechtes passiert.“
„Erinnern Sie sich an einen solchen Traum?“
„Ja, gestern .... die ganze Welt ist durch Erdbeben zerstört. Sehe alles in Trümmern.... Leichen und gebrochene elektrische Kabel.... Ich überlebe.... Beim Aufwachen habe ich Schuldgefühle.... “
„Warum? Glauben Sie, mit dieser Zerstörung etwas zu tun zu haben?“
„Ja. Ich bin schlecht.“
„Weshalb?“ Simone übertreibt etwas. Masochismus?
„Ich hasse alle.“
„Träume sind geheime Wünsche, aber das ist uns nicht bewusst. Also, Träume stehen für Wunscherfüllung. Können Sie damit etwas anfangen?“
„Hm, nee.... “
„Wir wollen gemeinsam versuchen, Ihren Traum zu verstehen. Was breitet der Traum vor Ihnen aus?“
„Zerstörung .... kaputte Welt.“
„Ja, das ist ein Symbol. Was könnte Ihr Traum denn symbolisieren?“
„Mich?“
„Ja. Es könnte etwas sein, das sich in Ihren Vorstellungen abspielt, wovon Sie innerlich ständig beherrscht werden.“
„Verstehe ich nicht.“
„Überlegen Sie. Wovon sind Sie innerlich so voll?“
„Angst .... und Hass.“
„Und Wut. Möchten Sie nicht oft Rache nehmen an der bösen Welt?“
„Ja.“
„Also, was symbolisiert Ihr Traum?“
„Mh .... meine Rache? .... Aber das würde ja heißen, dass ich mir die bösen Träume selber wünsche! .... Nee, kann nicht sein.... Ich habe doch Angst davor.... Wie kann ich mir denn so was wünschen?“
„Sie haben Recht, wenn Sie das als Widerspruch empfinden.“
„Zwei Wünsche zugleich und .... entgegengesetzt? .... Ist doch Unsinn!“
„Nun ja, wir existieren alle mit einer unbekannten Dimension in unserem Ich. Damit ist das Unbewusste in uns gemeint. Das ist für jeden erst einmal schwer zu verstehen.“
„Sitzt da meine Krankheit?“
„Weniger. Man nimmt an, dass Ihre Störungen an bestimmte Ich-Strukturen gebunden sind. Diese gestörten Strukturen sind noch nicht voll entwickelt, sondern unreif geblieben. Daher können diese Teile Ihres Ich noch nicht völlig normal funktionieren.“
„Mm .... Klingt mächtig.... ernst .... Da ist ja sowieso nichts zu machen!“
„O doch. Es ist zwar nicht leicht, das Ich zum Nachreifen zu bringen und bedeutet viel Arbeit, auch für Sie selbst. Aber, wenn Sie wirklich wollen, sich nicht schonen und richtig mitarbeiten, dann wird sich etwas ändern, auch in Ihrem Alter. Nehmen wir Hass und Angst. Sie leiden an Ihrem Hass, weil Sie davon ständig Schuldgefühle bekommen, nicht wahr?“
Kopfnicken.
Muss langsam sprechen. Ungewohnt für sie.
„Ein gewisses Maß an Angst und Aggression gehört zu jedem lebendigen Dasein. Damit werden wir alle geboren. Aber gesunde erwachsene Menschen bewältigen das normalerweise. Sie können Angst ertragen und Unmut einigermaßen bezwingen. Schwerarbeit für das Ich. Der Unterschied zwischen Ihnen und mir ist also nur graduell.“
„Oft träume ich von Menschen ohne Kopf .... Als Kind habe ich ein anderes Kind von der Schulmauer geschubst. Das Mädchen ist auf der anderen Seite sehr tief hinuntergefallen und von einem Hund ins Bein gebissen worden. Ich habe wie gebannt zugesehen. Dann hatte ich furchtbare Schuldgefühle.... bis jetzt.“
„Zuerst die Aggression und dann die Schuldgefühle zeigen an, dass Ihrem Ich die innere Balance fehlt. Mit Ihren Schuldgefühlen wollen wir uns in der nächsten Stunde auseinandersetzen.“
Do 4.3.93 Gespräch
Simone Maurer kommt heute ziemlich aufgeregt an. Sie sei gestern in ihrem Betrieb gewesen, hätte die Kündigung erhalten. Sofort telefonische Beratung mit unserer Sozialarbeiterin, Frau Laux. Wir besprechen unsere Einflussmöglichkeiten. Frau Laux will sich darum kümmern, meint, im Öffentlichen Dienst gäbe es ganz gute Chancen für Erfolg, mehr als in der Wirtschaft.
Simone ist wieder einmal verletzt und enttäuscht. Ihr alter Hass sei hochgekommen. Sie habe spätabends dort Scheiben eingeschlagen und in der Nacht geträumt, sie habe sich ihre eigene Hand abgehauen. Sofortige Deutung als Entlastung: dieser Traum sei ein Symbol für Selbstbestrafung. Es wäre verfrüht, ihr die Annahme eines extrem strengen, sadistischen Über- Ichs verständlich machen zu wollen.
„Wir haben noch ein Problem von gestern offen.“
„Ich weiß nicht mehr.“
„Am Ende der letzten Stunde erwähnten Sie, Sie hätten ein Mädchen die Schulmauer hinuntergeschubst. Sie sei auf das benachbarte Grundstück gefallen und von einem Hund gebissen worden.“
„Ach das .... ja.“
„Wie kam es zu dem Impuls von Ihnen, warum waren Sie auf das Mädchen wütend?“
„Ich weiß nicht mehr genau.“
„Was erinnern Sie? Wie hieß das Mädchen? Gehörte es zu Ihren Freundinnen?“
„Ich hatte überhaupt keine Freundinnen. Das Mädchen hieß Beate. Sie war die Beste in der Klasse.... Sie war immer mit den anderen zusammen.... Die ließen mich nie mitspielen.... “
„Es herrschte also eine Dauerspannung. Sie auf der einen, die anderen auf der anderen Seite?“
„Ja ...., so ungefähr ....“
„Was passierte dann?“
„Die Lehrerin hat meiner Mutter Bescheid gegeben. Die hat mich bestraft.“
„Bestraft?“
„Sie hat tagelang nicht mit mir gesprochen.“
„Wie haben Sie reagiert?“
„Ich hatte Schuldgefühle, auch jetzt noch.“
„....?“
„Ich verstehe mich später selbst nicht mehr. Weiß dann nicht, wie ich so gemein sein konnte.“
„Daraus entnehme ich, dass Sie eigentlich alles gut und richtig machen wollen.“
„Ja .... schon ....“
„Warum?“
„Ist doch normal.“
„Ja, wir wollen alle so brav sein, weil wir geliebt sein wollen. Von wem wollten Sie als Kind geliebt werden?“
„Von meiner Mutter. So genau habe ich nie darüber nachgedacht.... Sie fragen Sachen.... aus mir raus .... “
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