Im Übrigen sind die Einwohner Viandens nicht gut zu sprechen auf einen ihrer früheren Bürgermeister. Wenzeslas Coster, so hieß der nicht ganz so gute Mann, kaufte die Burg 1820 für 3200 Gulden, verscherbelte für viel Geld alles, was nicht niet- und nagelfest war, und wanderte mit viel Geld in den Taschen aus. Ohne Dach, Türen, Bleiverglasung und Fenster verfiel die Burg zusehends. Soll ja auch heute noch vorkommen, dass die Gewinnsucht einzelner Politiker die Gemeinschaft teuer zu stehen kommt. Im Falle der Burg Vianden sind es vornehmlich Mittel vom luxemburgischen Kulturministerium, aber auch private Mittel der „Amis du Cháteau de Vianden“ und Mittel des Großherzogs, die eingesetzt wurden, um die Burg nunmehr als Schloss Vianden den Besuchern zugänglich zu machen. Und da es eine Burg der Oranier war, kommt selbstverständlich insbesondere auch so mancher Holländer vom Campingplatz Viandens nach oben auf die Burg.
„Ja, leider, ich muss wegen einer plötzlich anberaumten Besprechung bezüglich des Campingplatzes runter ins Stadthaus. Wir treffen uns nachher im Café Cinema“, mit diesen Worten lässt Joe Frank und mich auf der Burg zurück. Nun, dann kann mir Frank auch noch davon erzählen, dass er aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem Sozialreformer Friedrich Wilhelm Raiffeisen anlässlich dessen 200. Geburtstages im letzten Jahr bei etlichen Festveranstaltungen als dessen Double aufgetreten ist. Der Idee Raiffeisens, (bäuerliche) Genossenschaften zu gründen („Einer für alle, alle für einen“) kann Frank viel abgewinnen. „So lässt sich eine wirkliche Gemeinschaft bilden, von unten nach oben. Nicht so wie im Marxismus, von oben nach unten. Das funktioniert nicht.“
Als wir schließlich gerade im Auto sitzen um runter in die Stadt zum Café zu fahren, kommt ein Anruf und Frank muss nach Hause („da kommt die Italienerin in meiner Frau durch, die will immer wissen, wo ich bin und wann ich komme“). Im Café brauche ich aber nicht lange auf Joe zu warten. Leider ist es inzwischen doch zu spät geworden, um noch das Victor Hugo-Haus zu besuchen. Hier lebte nämlich der französische Schriftsteller als politischer Flüchtling für ein paar Monate. „Sehr praktisch. In dem Haus dort hinten lebte er ganz alleine und seine Mätressen lebten gegenüber im Hotel.“ Aber außer dieser amourösen Geschichte hat Joe noch mehr über Victor Hugo zu berichten. „Im letzten Jahr war ich Mitglied einer Delegation, die nach Havanna reiste. Man hat uns dort gefragt, ob wir in Vianden, dem Exil-Ort eines Fast-Revolutionärs, nicht ein Denkmal des Poeten, Schriftstellers und kubanischen Nationalhelden José Marti aufstellen wollen. In Kuba steht ja vor jeder Schule ein Denkmal für ihn. Das Pikante daran: In Luxemburg-Stadt wäre ein solches Denkmal wohl unvorstellbar, schließlich stammt die Frau des Großherzogs aus einer alten kubanischen Adelsfamilie. Mal sehen, was daraus wird!“
Eines will mir Joe aber unbedingt noch zeigen, bevor er um 18.30 Uhr zur heutigen Gemeinderatssitzung muss. „Wir fahren jetzt noch zum Pumpspeicherwerk. Wir haben hier in Vianden nämlich nicht nur historische Bauten, sondern echtes Hightech.“ Also fahren wir an der Staumauer vorbei und am Our-Stausee entlang bis zum Eingang einer unterirdischen Kavernenhalle. Durch einen langen Stollen gelangen wir bis zur großen Maschinenhalle. Durch ein Fenster blicken wir auf neun Maschinengruppen, die jeweils aus einem Generator, einer Turbine und einer Pumpe bestehen. „Die Idee ist im Prinzip ganz einfach, auch wenn es dann in der Wirklichkeit etwas komplizierter ist“, soweit Joe. „In Zeiten mit wenig Stromverbrauch wird über die Pumpen Wasser aus dem Stausee nach oben in große Sammelbecken gepumpt. Bei hohem Stromverbrauch, d. h. bei großem Bedarf an Strom, lässt man Wasser von oben nach unten durch die Turbinen fließen, die dann mit Generatoren Strom erzeugen. Unser Pumpspeicherwerk ist das größte seiner Art in Europa.“ Ich bin begeistert. Heißt es nicht immer, dass sich Strom leider nicht speichern lässt? Diese Art der Stromgewinnung aus Wasserspeichern erscheint mir geradezu genial, zudem man die ganze Produktion in den Berg verlegt hat, d. h. draußen sind außer Umspannmasten, den Speicherbecken und dem Stausee keine Anlagen zu sehen, die die hier überaus reizvolle Landschaft beeinträchtigen würden.
Wir fahren noch über den Leichenweg (über den früher die Verstorbenen vom alten im Tal gelegenen Dörfchen Bivels mangels eigenen Friedhofs nach Walsdorf gebracht wurden; das im wahrsten Sinne des Wortes arme Bivels wurde ein Opfer des Stausees und oberhalb desselben neu errichtet, was sich für die Bewohner durchaus gelohnt hat) am Victor-Hugo-Aussichtspunkt vorbei zum Oberbecken. Und dann ist es auch schon fast wieder Zeit zum Abschied nehmen. Joe muss zur Gemeinderatssitzung. Wir fahren nach Vianden zurück und verabschieden uns vor dem Stadthaus. Auf dem Weg zum Bus fällt mir ein, dass ich ganz vergessen habe, Joe danach zu fragen, warum das Schengen-Abkommen beinahe ein Vianden-Abkommen geworden wäre (das hatte er in seiner Einladungs-Email erwähnt).
Nun, per Email reicht er dankenswerterweise die Erklärung nach: „Ursprünglich sollten die diesbezüglichen Verhandlungen auf Schloss Vianden geführt werden, ergo wäre es dann ein „Vianden-Accord“ geworden. Dieser Plan wurde aber im letzten Augenblick umgekrempelt und die Verhandlungen wurden ins Dreiländereck nach Schengen verlegt.“
Der eingangs erwähnten Aufforderung Joes, sie wissen schon, das mit den lockeren Schrauben, nun, dieser Aufforderung komme ich jedenfalls nicht nach. Joe hat keineswegs ein paar Schrauben locker! Der Mann tanzt einfach auf vielen Hochzeiten. In Bremen geht er nicht nur zum Fußball, sondern nutzt auch gern und reichhaltig die vielen Kulturangebote dieser netten Hansestadt. In Vianden kümmert er sich auch noch mit um den Naturpark Our. Kaum zu glauben, dass er obendrein noch gern und viel reist. Am liebsten mit dem umgebauten Wohnmobil durch Europa (wie es sich für einen Luxemburger gehört), aber auch gern mal nach Ostafrika (was er sich als Luxemburger ja auch leisten kann). Über seine frühere Tätigkeit als Banker haben wir allerdings nicht gesprochen. Mit und über Banker werde ich schon noch anderen Ortes sprechen, warten Sie es einfach mal ab!
Burg Vianden
Fast ein Jahrhundert Luxemburg wird zu Grabe getragen
Am 23. April ist Großherzog Jean im Alter von 98 Jahren gestorben, und heute, am 4. Mai, ist sein Staatsbegräbnis. Die Trauerfeier findet in der Kathedrale in Luxemburg-Stadt statt. Tausende Luxemburgerinnen und Luxemburger und wohl nicht wesentlich weniger Touristen aus aller Welt stehen hinter den Absperrgittern, um dem Trauerzug mit dem Sarg des Verstorbenen die Ehre zu erweisen. Als ich vorhin noch einmal kurz auf die Wetter-App geschaut habe, luden mich 2 Grad (immerhin über Null) und die Aussicht auf Regen ein, mich doch ein wenig wärmer und wetterfester bekleidet (als sonst zu dieser Jahreszeit üblich) auf den Weg zu machen. Mein frühes Kommen sichert mir einen phantastischen Platz: direkt hinter einer Gruppe luxemburgischer Frauen mit Blick auf den Eingang der Kathedrale. Gleich schräg vor mir stehen auch schon der Reporter und der Kameramann von RTL auf einer kleinen Tribüne.
Nach und nach wird es um uns herum immer voller, dafür lässt aber auch der Regen nach. Jetzt wird es kritisch: Von hinten nähert sich lauthals palavernd eine chinesische Reisegruppe. Mein Größenvorteil reicht ja prima aus, über die freundlichen Luxemburgerinnen zu gucken, aber wenn sich jetzt noch mehr als 20 Regenschirm-bewaffnete Chinesen nach vorne kämpfen, was dann? Nun, ein Hoch auf die Luxemburgerinnen und ein paar Franzosen und Holländer links und rechts neben mir. Gemeinsam wehren wir den Ansturm ab, bleiben einfach standhaft da stehen, wo wir ja schon seit einiger Zeit ausharren und der chinesische Fahnenträger bläst zum Rückzug. Gerade rechtzeitig, denn jetzt fahren die ersten Staatsgäste vor.
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