Ich spüre zum ersten Mal, was Ohnmacht bedeutet, Schwäche. Zum ersten Mal spüre ich ein blamables Versagen, die Kraft des Verlierens, des Aufgebens. Ich bin kein Held mehr, sondern ein erbarmungswürdiger Greis. Ich erkenne daher: Nicht jeder große Mann ist auch ein großer Mensch. Ich habe Angst vor dem Ergebnis unserer Reise. Ich, der gefeierte Seeheld, der Pirat, der furchtlose Korsar. Was für ein fluchwürdiger Hunger nach Gold war das, der mich immer trieb. Was nützt mir nun all mein Gold? Man nennt mich heute schon den „Mann mit den zwei Gesichtern“, weil ich als Abenteurer und als der erste englische Weltumsegler geehrt worden bin, dessen Verdienste für die englische Seefahrt und den Aufbau der englischen Seemacht gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Das sind die Worte unserer Königin. Ich war immer der Seefahrt mit Herz, Leib und Seele verschrieben, ein Mann, der dafür geboren war, sich dem ständigen Kampf mit den wütenden, nassen Elementen zu stellen. Doch der Preis, den ich dafür zu zahlen bereit war, wird eines Tages mein Bild trüben: Plünderung, Mord und Sklavenhandel. Noch sind meine Bewunderer dem romantischen Bild verfallen, das man sich in England immer noch vom „Piraten im Dienste der Königin“ malt. Doch hat dies alles bestand vor dem erbarmungslosen Urteil der Geschichte? Vielleicht sagen sie: Er hat bewiesen, dass die Welt rund, dass sie eine Kugel ist! Du wirst Dich wundern, warum mich gerade jetzt diese Gedanken quälen: Ich weiß es nicht . . .
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, Liebes, aber Dein Held ist sehr verzweifelt. Was ist aus mir geworden? Ein Jammerlappen! Fast hilflos, wie ein alter Segler, der irgendwo gestrandet ist. Fieberwellen durchlaufen meinen abgemagerten Leib. Mein Geist denkt wirr: Solch ein Ende für einen gefeierten Admiral? Ja! Meine Gedanken trüben sich ein, dann, Stunden später, sehe ich wieder klar. Für ein paar Minuten keimt neue Hoffnung auf, um kurz danach zu erkennen, dass es keine Rettung gibt: Dein Mann und Admiral der Königin ist nur noch ein stinkendes Etwas. John schiebt mir ein Kissen unter meinen rechten Arm, damit ich noch schreiben kann. Die Krämpfe in den Beinen zeigen mir, dass ich noch lebe und gegen den Tod ankämpfe. Meine Füße sind doppelt so dick, ich kann sie nicht mehr anheben. John gibt mir Alkohol, in den er eine Droge mischt, wahrscheinlich Opium, um die Schmerzen im Unterleib zu lindern. Das hilft für eine gewisse Zeit . . . Aber ich erkenne: Was reif ist, ist schon halb verfault! Oder: Kaum ist der Verstand zu einer gewissen Reife gelangt, beginnt der Körper zu verwelken . . . Wir müssen diesen Bauchfluss endlich stoppen . . .
Heute erinnere ich mich – ich denke, ich habe einen klaren Moment - an unsere ersten Tage in Buckland im Jahre 1585, wie Du unsicher durch das große, fremde Haus geschritten bist. Ich zeigte Dir die Räume, unsere privaten Gemächer ebenso wie die Nebengebäude, Stallungen, Lagerräume. Buckland wirkte wie eine graue, große Festung auf Dich – von außen, aber als Du ins Innere kamst, merkte ich Dein Staunen über all den Luxus, der uns umgab. Wie gerne säße ich jetzt auf der Terrasse mit Dir, die von vielfarbigen Hortensien eingerahmt ist, ein Glas Wein vor uns, den Untergang der Sonne genießend. Es machte mir immer eine große Freude, wenn wir gemeinsam in den Weinkeller, ein großes, kühles Rundgewölbe, gingen, um einen guten Tropfen für den Abend auszusuchen. Manchmal liebten wir uns spontan dort auf dem kleinen Sofa. Weißt Du noch? Es war der Reiz des Verbotenen, der uns vereinte, denn wir wurden nicht einmal von einem Bediensteten zufällig ertappt. Wir waren aufgeregt, atemlos, vital und beeilten uns danach, mit zwei Flaschen wieder nach oben zu gehen. Es waren herrliche Momente, Augenblicke einer körperlichen Erfüllung und ein wohliger Kitzel, den wir beide genossen.
Ich schreibe wieder wie ein Verrückter, um mich wach zu halten. Ist es schon das erste Anzeichen eines Wahns? Oft unterbreche ich das Schreiben, schlafe nur kurz, fange erneut an. Meine Arme schmerzen, die Beine sind fast taub und geschwollen, ich schwitze vom Fieber. Mir ist von dem bestialischen Gestank an Bord noch übler. Wir liegen hier fest, angeschlagen und ohne große Hoffnung, doch noch Portobelo erobern zu können. Es fehlt der Wind, auch Poseidon und der Gott des Windes, Aeolos, scheinen uns verlassen zu haben. Meine Männer halten noch zu mir, sie spüren meine beginnende Schwäche. Mich plagt ein heftiges, ein verdammtes Feuer, das von der heimtückischen Ruhr, einem fürchterlichen Durchfall, herrührt, der auch unseren Vetter und Freund John Hawkins hingerafft hat. Ja, Liebes, John starb bereits im November . . . vor zwei Monaten. Wir haben erst vor drei Tagen von seinem Tod erfahren. Ich bin sehr traurig. Unser beider Ehrgeiz fordert nun den Tribut. John war ein feiner Kerl, ein mutiger Kapitän, ein reicher Pirat und ein unruhiger Geist. Wir beide mochten ihn sehr.
Ich fühle mich einsam, schuldig, depressiv und schwach. Den Blick auf das Ende zu werfen - es gibt in unserem Leben kaum etwas, das den Menschen schwerer fällt. Was passiert in meinem Körper, schlägt mein Herz noch? Sind die Glieder noch voll von Leben oder schon kalt geworden, abgestorben? Verliere ich den Verstand? Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber ich bin unendlich traurig, von Dir getrennt zu sein. Von Dir und von unserem Kind. Wem ähnelt es? Schreit es, lacht es? Wir sind erst elf Jahre verheiratet, zu kurz, um zu sterben. Zu lang, um dem Glück entsagen zu müssen.
Ich habe mir mein Lager auf Deck aufschlagen lassen. In meiner Kajüte halte ich es nicht mehr aus. Tagsüber liege ich unter einem Sonnensegel, nachts – um etwas Kühlung zu bekommen, damit das Fieber erträglicher wird – starre ich in den Sternenhimmel. Ich blicke in die fremde, unendliche Weite des Himmels über mir und stelle mir vor, wo und wie ich dort bald sein werde. Oder ist für mich doch ein Platz in der Hölle reserviert? Für den Seeräuber Drake? So intensiv habe ich den Sternenhimmel lange nicht mehr beobachtet – wir beiden taten das am Anfang unserer Beziehung und später in den ersten Jahren unserer Ehe, wenn wir nach einem Liebesspiel ermattet am Strand lagen. Wie unbekannt die Welt über uns doch ist! Welch göttliche Macht hat das alles erschaffen und eine Gesetzmäßigkeit diesen Planeten verordnet, um das Chaos am und im Himmel zu vermeiden?
Ich beginne zu grübeln, zu zweifeln und frage mich: Wo ist unser aller Gott dort oben zu finden? Wo ist sein Reich mit all den Toten, die in den Himmel wollten und auch dort gelandet sind? Auf einem der Sterne? So intensiv ich auch nach oben starre, ich kann Gott nicht sehen, keine Engel, keine Heiligen – nichts, nur leuchtende Punkte in unterschiedlicher Größe. Irgendwie macht mir das Firmament Angst, nachdem ich des Nachts oft segelte und Kurs hielt. Wie viele dieser Sterne gibt es dort, welche sind der Himmel? Der Nordsternhimmel ist anders als der Südsternhimmel. Ich habe Probleme, das Kreuz des Südens zu erkennen. Ist dort das Königreich der Himmel zu finden, denn der Himmel ist ja nun geteilt in Katholiken, Protestanten, Sektierer, Mohammedaner, Juden, Buddhisten, Hindi – können die vielen Millionen Toten alle dort oben Platz finden? Ich bin verwirrt, je länger ich darüber nachdenke. Solche Gedanken hatte ich früher nie . . . Als junger Bursche war ich ein Suchender in einem Strudel der Gefühle, wie die meisten meiner Kumpane auch. Ich suchte nach meinem Platz im Leben, nach der Wahrheit, nach Antworten auf die vielen Fragen, die mir so durch das spätkindliche Gehirn schießen. Was ist richtig, was ist falsch, wohin führt mich mein Weg? Welcher Weg ist der richtige? Und wenn man zudem in einem streng puritanischen Haushalt aufgewachsen ist, der Meinungen und Antworten vorgibt und weitere Fragen als Provokation empfindet, wurde diese Suche zum dominierenden Inhalt eines jungen Lebens. Meines Lebens. Ich las viel und suchte nach Antworten. Ich kam mir vor wie in einem Steinbruch, suchte und fand den schweren Brocken, der meinen jugendlichen Wissendrang befriedigten konnte. Irgendwie war ich glücklich auf dieser Suche nach dem Sinn, nach dem Wo und dem Wie und dem Warum. Wie die meisten Menschen, so träumte auch ich von Erfolg und Macht, von Ansehen und Reichtum. Ich sehnte mich nach der eigenen Freiheit und einem von mir bestimmten Glück. All das habe ich erreicht und mit und in Dir gefunden. An ein Scheitern habe ich nie gedacht! Und nun dieses Ende . . . Aufstieg und Fall eines Heldenlebens?
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