„Aber. Es könnte ja sein, dass Du aufgrund Deiner persönlichen Geschichte, damals, aufgrund Deiner eigenen Erfahrungen damals, ein Urteil gefällt hast, dessen Folgen Dir gar nicht bewusst waren. Das kennen wir doch alle. Das Unterbewusstsein hat längst schon geurteilt, bevor das Bewusstsein etwas entscheidet.” Luzifer musterte ihn eindringlich. „Das könnte doch sein, oder?”
Ron hatte auch auf diese Frage keine Antwort, die ihm gefiel, während Luzifer wie ein Kater um ihn herumschlich und ihn mehrfach grinsend aufforderte, dazu endlich etwas von Belang zu äußern.
„Verdammt noch mal, Ron Gellag...”
„Gallagher. Ron Gallagher. Und ja! Das könnte so sein.”
Fast erleichtert schloss Luzifer die Augen. „Sehr schön. Sehr schön. Hätten wir das also geklärt.” Luzifer nahm beruhigt wieder Platz. „Kommen wir zu den Folgen Deines Handelns.” Einem Oberlehrer gleich verschränkte er seine Arme und Hände auf der Brust. „Der Tod dieses Begleiters war der Beginn einer Reihe von Boykottmaßnahmen gegen unser Reich seitens der Himmelsleitung. Das Destino und mehrere andere Kommissionen haben erst nach ihrer Freilassung ihre Arbeit wieder aufgenommen. Deswegen, ich betone deswegen, habe ich dafür gesorgt, dass sie uns verlassen konnte.” Luzifer schob seinen Kopf vor. „Nun! Ich möchte, dass Du ihr folgst, dass Du sie begleitest. Ich traue diesen Brüdern nicht. Ich möchte sichergehen, dass sie unbeschadet ins ewige Licht tritt. Ich möchte, dass sie zügig und vor allem unversehrt auf die Erde zurückkehrt.”
Ron verharrte abermals. Hatte er tatsächlich richtig gehört? Er sollte Emma ins Fegefeuer folgen, um die Interessen des Teufels zu wahren.
Luzifer vernahm seine Skepsis. „Ja, doch! Die können mir doch sonst etwas erzählen. Ich muss Gewissheit haben, dass dieses Menschenkind gerettet wird.”
Er schaute ihn erneut lange an, und so, wie er das tat, wusste Ron, dass es ihm ernst war. Nur aus welchem Grund lag Luzifer wirklich an Emmas Wohl? So viel dämmerte ihm. Emmas sichere Rückkehr war zweifelsfrei ein Vorwand für ein anderes, höherrangiges Motiv.
„Du bist jung und unerfahren. Ich gehe davon aus, dass diese Bande von Verrätern einen schlechten Einfluss auf Dich gehabt haben, dem Du Dich aus Mangel an Erfahrung nur schwerlich widersetzen konntest.” Luzifer wurde nachdenklicher und seufzte auf. „Sarah, meine geliebte Sarah. Was für ein Verlust.” Seine Augen blitzten plötzlich bösartig funkelnd hervor. „Die ewige Eva! Eine Frau eben. Sollte sie mir je wieder unter meine Augen treten, ich werde sie persönlich vierteilen und zwar mit einem Genuss...”
Ron dachte angestrengt nach. Die Aussicht, Emma zu folgen und von hier wegzukommen, gefiel ihm. Gleichzeitig besaß diese unerwartete Milde einen gehörigen Haken. „Darf ich fragen, wie Sie sich diese Begleitung vorstellen?”
Luzifer griff ein Schreiben und versiegelte es mit einem Wachsring zu einer seiner berüchtigten Urkunden. Sein Gemüt hatte erneut anfallartig gewechselt. Mit nahezu gönnerhaftem Benimm schmunzelte er auf. „Das darfst Du, das darfst Du!”
Es entsprach der Natur und Zweckmäßigkeit der Sache, dass seine Ernennung im kleinsten Kreis vollzogen wurde. Ron wurde für seine Mission in den Null-Null-Agentenstatus erhoben. Süffisant hatte Luzifer bemerkt, dass sich mit Sarahs Verrat eine freie Planstelle eröffnet hatte. Er hoffte, dass Ron seine Sache besser machen würde, wie er kurz nur betonte. Über Sarahs Verbleib indes hatte er geschwiegen und nur müde gelächelt.
Ein päpstlicher Zeremonienmeister der mittelalterlichen Kurie ließ Ron in einer Krypta auf das Satanische Manifest schwören. Danach erhielt er eine zweistündige Kopfwäsche über die Organisation des Himmels und des Fegefeuers samt Analyse des Personals und ihrer Aufgaben. Was die Hölle über ihren Gegenspieler diesbezüglich wusste, Ron kannte es nach dieser Infiltrierung ebenfalls. Mit seiner Ernennung zu einem Topagenten übersprang er nicht weniger als sechs Ausbildungsjahre. In seine Mission eingewiesen und einsatzbereit, war er sich dennoch darüber klar, dass er nicht mehr als eine Marionette Luzifers in einem Spiel war, über dessen Dramaturgie er nur mutmaßen konnte.
Luzifer selbst betrachtete sich nach Rons Abgang lange in einem Spiegel. Er war mit sich hoch zufrieden. Er wiederholte einige seiner Aussagen, die er Ron gegenüber gemacht hatte. Er imitierte seinen Benimm, mit der er ihm gegenüber getreten war, und er lobte seine schauspielerischen Leistungen. Alle seine Täuschungsmanöver waren gesetzt. Amüsiert begann er, lauter und lauter zu lachen.
Durch den riesigen, kreisförmigen Treppenaufgang waren sie weitere sieben Mal siebenhundertsiebenundsiebzig Stufen einen Kreis höher aufgestiegen. Entlang der Wände waren wie üblich Bilder mit biblischen Motiven aufgehängt. Immer, wenn sie eine kurze Rast eingelegt hatten, um auf die zu warten, die sich die Stufen hinaufquälten, war ein Engelshelfer vorbeigehuscht und hatte ihnen erklärt, welche Passagen des Alten oder Neuen Testaments auf diese Weise verewigt worden waren. Ein Vaterunser-Gebet hatte das christliche Sendungsbedürfnis stets beendet. Während des Aufstiegs mühte sich Emma nach Kräften zu verstehen, warum ausgerechnet Silvy die Neidprüfung nicht bestanden hatte. Sie schlich als eine der letzten die Stufen hoch, um den allgemeinen Belehrungen zu entgehen, als sie Ottokar erreichte, der auf sie gewartet hatte.
„Kennst Du den? Treffen sich zwei Bundestagsabgeordnete im Zug. Der eine kommt direkt aus einer Debatte im Reichstag. Fragt ihn der andere, was er gesagt hat. Sagt der eine, dass er wie immer gar nichts gesagt hat, worauf der andere entgegnet, dass ihm das klar war und nur wissen wollte, wie er es formuliert hat.”
Emma konnte nicht wirklich lachen.
„Komm! So schlecht ist er nicht.”
„Stimmt! Aber mit Witzen ist das immer so eine Sache. Es kommt nicht nur darauf an, wer und wie ihn erzählt, sondern auch, wann und vor allem warum.”
„Du solltest nicht so viel grübeln.”
„Ach ja?”
„Macht Dich unnötig älter!” Ottokar hielt ihren Schritt. „Silvy wird etwas anderes falsch gemacht haben.”
„Genau darüber denke ich ja nach.” Emma stutzte, weil Ottokar zu wissen schien, was sie beschäftigte. „Nehmen wir mal an, dass das so ist, wie Du sagst. Dann bedeutet das, dass es völlig schnuppe ist, was wir zu diesen angeblichen Prüfungen sagen oder machen.”
„Und was wir nicht sagen oder nicht machen.”
„Was wieder soviel bedeutet, dass alles vorherbestimmt ist.”
„Und das bedeutet, dass wir begleitet werden.”
„Warte! Ich erzähle Dir was. Aber Du musst schwören, dass Du es für Dich behältst.”
Ottokar sicherte ihr seine Verschwiegenheit mit der Geste beider erhobenen Hände zu.
„In der Nacht vor diesem Gesprächskreis hatte ich einen Traum. Und jetzt rate, was ich geträumt habe?”
„Neid! Du hast von Neid geträumt. Wie wir alle.”
Emma war augenblicklich starr vor Verwunderung.
„Ich habe sie alle gefragt. Alle haben wie Du und ich wenige Stunden vor der Prüfung über Neid geträumt.”
Emma hielt inne. „Fragt sich jetzt nur noch, warum Silvy diesen Traum nicht gehabt hat.”
„Sie hat nicht geträumt?”
„Nein! Hab sie danach gefragt.”
„Dann hat sie vielleicht gelogen,” versuchte Ottokar, Emmas Fragen zuvorzukommen. „Fest jedenfalls steht, dass sie nicht mehr dabei ist.
„Ja, wie Amber auch.”
„Wie wer auch?”
„Nichts! Schon gut!”
Eine Weile sprach keiner ein Wort. Ottokar nämlich beschäftigte ein anderer Gedanke. Nach mehreren, kurzen Blicken auf Emma fasste er den Mut, sich zu offenbaren. „Sag mal! Du hast nicht zufälligerweise auch... Du hast..., äh...“
„Muss schlimm sein.”
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