Ron hatte tatsächlich die Wahrheit gesagt. Nichts mehr als die reine Wahrheit. Ihr Leben stand auf dem Spiel. Sie würde tun müssen, was er vorgeschlagen hatte. Sie musste einmal durchs Jenseits laufen, die Hölle hinab, am Inferno vorbei, dem Amtssitz Luzifers, den Berg des Fegefeuers hinauflaufen, bis sie das ewige Licht erreicht hatte. Dann erst war sie den Höllenfürst samt seiner Bande von Riesenschnauzern los. Emma erinnerte sich. Sie war ihm gefolgt. Eine Untergrundbahn hätte sie zermalmt, wenn er nicht gewesen wäre. Mit diesem Tag hatte alles angefangen. In diesen Stunden hatte sie eine Entscheidung getroffen, über deren Konsequenzen sie nicht die geringste Ahnung besessen hatte. Ihre Reise durchs Jenseits, das es entgegen vieler Bekundungen und Lehren also doch gab, sollte eine dramatische Enthüllung werden, die nie zuvor ein Mensch gemacht hatte. Und hätte Emma zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, wer im Hintergrund tatsächlich an den Fäden ihres Schicksals zog, hätte sie sich freiwillig für den Rest ihres Lebens in eine kleine, gemütliche Irrenanstalt eingewiesen.
Sie war mit ihm durch die Hölle gegangen. Sie war dem Teufel entkommen, während Ron in dessen Händen verschwunden blieb. Sie hatte die ersten Prüfungen im Fegefeuer bestanden, während von Oskar nach seinem Tod immer noch jeder Hinweis fehlte, wo sie ihn entweder beerdigt oder sonst wo hingebracht hatten. Und obendrein war sie dieser Kaja begegnet, während ihres nächtlichen Spazierganges. Wäre sie nicht aufgewacht, aus jenem Traum in dieser Nacht, hätte sie nicht ins Schlafzimmer gelugt, wäre sie nicht hinaus in die Nacht, hätte sie in der Bar nicht nach einem Bier gefragt, wäre sie auch diesem bornierten Vamp niemals begegnet. Träumte sie etwa immer noch? Emma sinnierte über das Tempo des Lebens, über die Dinge und Menschen, die einem widerfuhren oder begegneten und damit das eigene Dasein so maßgeblich beeinflussen konnten. Sie dachte an Ottokar und an Silvy, an Hölle und Himmel, an die Reiche im Jenseits, die es angeblich nicht gab, an Gott und die Welt, an das, was alles zuvor geschehen war, an diesen skurrilen Gesprächskreis über Neid. Und überhaupt. Woher wusste diese Hure über sie und Ron? Wo bloß war Ron? Was bloß fiel dieser Hexe Kaja ein, sie derart zu beleidigen?
Vielleicht war es die Anstrengung, auf so viele Fragen so wenige Antworten zu haben. Vielleicht hatte sich ihr Unterbewusstsein ergeben. Vielleicht hatten sich ihre Hirnzellen ergeben, weil das erträgliche Maß, zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden zu können, längst schon überschritten war, bei allem, was sie bis hierher durchgemacht hatte. Mit einem letzten Blick auf das Lächeln dieses kitschigen Gotteshelfer jedenfalls fielen Emma die Augen zu, begleitet von dem Gedanken, dass ihre Liebesgeschichte noch nicht vollendet war.
Er hatte sich entschieden. Endlich. Seine Strafe und ihr Maß standen fest. Volle zwei Tage hatten sie ihn unbehelligt in seiner dunklen Zelle schmoren lassen. Nach Lage der Dinge rechnete Ron mit der Höchststrafe, mit dem Eissee, die Bestrafung, die sein Verrat vorsah. Seit mehreren Minuten saß er seinem Henker schweigend gegenüber. Ron scheute Blickkontakt. Noch immer blendete ihn Helligkeit. In gesenkter Kopfhaltung hielt er Luzifers Hände im Blick, die eine Kladde hielten. Sein Siegelring glänzte ihm mehrfach in prächtigem Gold entgegen.
Aufmerksam las Luzifer Auszüge in verschiedenen Berichten. Er legte die Akte ab und nahm mit einer auffallend wohlwollenden Geste die Lesebrille von der Nasenspitze. „Nun, wie geht es Dir?”
Ron dachte, sich verhört zu haben. Der Fürst der Finsternis begann ihre Unterredung in der Art eines Sozialarbeiters. Luzifer fragte ihn allen Ernstes nach seinem Befinden. Er wusste nicht, was er antworten sollte.
„Ich habe Deine Geschichte gelesen, und ich frage mich, warum Du sie mitgenommen hast? Ja! Warum hast Du sie mitgenommen? Die Aussicht auf ein amouröses Abenteuer war es wohl nicht, oder doch?” Luzifer verdrehte so lustvoll seinen Kopf und nickte gleichzeitig so heftig, als sei dies die einzige Erklärung für Rons Hilfe, die er akzeptieren konnte.
Ron versuchte, nüchtern zu wirken. „Sie war mir gefolgt. Ich wollte nicht, dass sie durch die Untergrundbahn der Erdlinge den Tod findet. Sie ist noch so jung.”
„Stimmt, das ist sie wohl.” Luzifer setzte seine Sehhilfe wieder auf und beäugte ihn genauer. Mit schwungvollen Armgestiken forderte er Ron auf, sich weiter mitzuteilen. „Aber dann hattest Du ein noch viel größeres Problem.”
„Stimmt, das hatte ich wohl.”
Luzifer missfiel Rons Antwort und belegte ihn mit einem bösen Blick. Er erhob sich und schritt würdevoll auf und ab. „Jetzt ist sie weg. Wohin auch immer. Einfach weg. Hat er eine Erklärung, wie sie das geschafft hat?”
Ron verfolgte seinen Peiniger sorgsam genau. Auch auf diese Frage wusste er nicht sofort zu antworten. Luzifer selbst hatte schließlich Emmas Flucht ermöglicht.
„Nur allzu gern wüsste ich, wie sie das geschafft hat? Das Warum ist mir gleichgültig.” Luzifer trat näher an Ron heran, griff sein Kinn und zog es vor sein Gesicht. „Ich habe gefragt, ob er eine Vorstellung hat, wie sie das geschafft hat.”
„Nein.”
Luzifer ließ wieder von ihm ab. „Ja, ich dachte mir, dass er so antworten würdest.” Er stolzierte neuerlich auf und ab und gab sich wie ein Lehrer, der damit rang, wie er einen seiner Schüler auf den richtigen Pfad der Lösung führen konnte. „Nun, ich will zu ihm ehrlich sein. Je länger ich über Deinen Fehler nachdenke, und dieses Menschenkind in unser Reich zu bringen war ein unverzeihlicher Fehler, weil es gegen die Grundsätze unserer Ordnung verstößt, desto... wie soll ich mich ausdrücken... desto nachdenklicher werde ich.” Luzifer hielt inne und trat näher an ihn heran. Er versuchte an Ron, der es weiterhin vermied, seinen Blick aufzunehmen, eine Reaktion auf seine Worte auszumachen. „Schaue er mich gefälligst an, wenn ich mit ihm rede!”
Ron nahm langsam den Kopf hoch und erwiderte Luzifers Blick. Ein feistes Grinsen erwartete ihn, das zu imitieren niemand in der Lage war.
„Ich will Dir sagen, wie sie das geschafft hat. Durch mich. Ich selbst habe ihr geholfen. Durch meine Hilfe konnte sie aus der Arena fliehen.” Luzifer setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. „Aber das weißt Du sicherlich, oder?”
Ron schwieg weiter. Er hatte sich, als man ihn aus seiner Zelle geholt hatte, vorgenommen, kein Wort zu sagen, nicht um Milde zu bitten und jede Bestrafung ehrenhaft zu erdulden. Emma war im Fegefeuer. Das war das Ziel ihrer Unternehmung gewesen, und das war erreicht.
Luzifer knallte plötzlich harsch mit der Faust auf den Tisch und fauchte Ron an. „Ich habe Dich etwas gefragt.”
„Unser Plan sah vor, sie mit Hilfe der Austauschkommission ins Fegefeuer zu bringen. Unser Plan ist gescheitert. Das wissen Sie doch.” Ron war trotziger geworden. Er hatte nichts mehr zu verlieren.
Luzifer massierte seine Schläfen und versah Ron mit prüfenden Blicken. „Weißt Du! Ich frage mich, warum Du mit Deinem Problem nicht zu mir gekommen bist. Ich meine, es wäre eine Geste des Vertrauens gewesen, wenn Du, als einer meiner Diener den Weg hierher gesucht hättest und mir verdammt noch mal gesagt hättest – Chef! Ich habe ein Problem.” Luzifers Tonfall war nahezu freundschaftlich geworden. „Stattdessen wird Dein Problem zu einer Belastung für uns alle.” Er stand auf, stützte seine Arme und Hände auf dem Schreibtisch ab und baute sich vor Ron auf. „Ein Ereignis von diesem Rang hätte ihn niemals anders handeln lassen dürfen. Hört er? Niemals anders!”
War Ron bereits mit dem Beginn ihrer Unterredung gehörig irritiert, so konnte er ihren Verlauf und die Intention Luzifers noch weniger begreifen. His Infernal Majesty bot sich ihm als unberechenbarer Wirrkopf dar.
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