Ich durfte eine, sagen wir einmal durchschnittliche Kindheit und Jugend erleben, aus der nahtlos und aus der Notwendigkeit geboren der Übergang in das Erwachsenenalter folgte. Das blieb auch den Einzugsbehörden des Militärs nicht lange verborgen.
Gestern noch unbeschwert tanzend in der Dorfdisko, folgte ich bereits am nächsten Morgen dieser durchaus freundlichen Einladung des Wehrbereichskommandos vier, Bezirk Süd, um meine damals echt coolen Klamotten gegen eine noch viel coolere Uniform einzutauschen. Als Spross einer alten Offiziersfamilie habe ich sie auch in den folgenden Jahren selten abgelegt. Ich zog von meiner kleinen Wohnung in die mir vorbestimmte Kaserne und tat fortan Dienst an der Waffe für Ehre und Vaterland.
Wenig behutsam wurde ich ab dem ersten Tag meiner Grundausbildung mit den mir neuen Umgangsformen innerhalb der Kasernengemeinschaft vertraut gemacht. Man brüllte mich an mit und ohne Grund, aber meistens ohne, während ich überhaupt nicht verstand, was das alles mit mir zu tun haben sollte und warum immer ich die Kohlen für andere aus dem Feuer holen musste. Erst nach und nach begann ich zu verstehen und wusste schließlich zu deuten, was sich hinter der Begeisterung und dem Lächeln meines Wehrbeauftragten verborgen hatte, als er mich im Beratungsgespräch davon überzeugen konnte, mich für einen längeren Einsatz in einer Kampfkompanie zu entscheiden. Nachdem das Schreien auch nach einigen Tagen noch immer nicht besser geworden war, führte man mich mehrmals und egal bei welchem Wetter in ein nahes Waldstück, setzte mich in ein bereits ausgehobenes Erdloch und ließ mich in der Ungewissheit zurück, ob mich denn je wieder einer abholen kommen würde. Nach einer gefühlten halben Ewigkeit unterhalb der Grasnarbe wurde ich von einem mir völlig unbekannten Menschen in Uniform besucht, der wohl noch nicht mitbekommen hatte, dass das mit dem Brüllen so gar nicht zielführend war. Ich musste ihm erzählen, nein, entschuldigen Sie, ich musste melden, was ich die letzten 24 Stunden Tolles aus dem Loch heraus gesehen hatte. Danach durfte ich in die Kaserne zurück, um mir ein paar trockene Sachen anzuziehen. Ging aber alles recht fix, denn an diesem Regentag war echt nichts los gewesen im Wald.
Etwa drei Monate ging dieses Spiel so weiter, wobei es nicht alleine bei meinen Aufenthalten im Wald blieb.
In dieser Zeit brachte man mir neben vielen anderen lebenswert-vollen Dingen auch bei, mein Gewehr als meine Braut zu betrachten, was faktisch nichts anderes für mich bedeutete, als dass ich meine damalige Frau auf obersten Befehl des Militärs mit einem Stück Stahl hintergehen musste, wofür ich mich schon ein wenig schäme und auch bei ihr entschuldigen möchte. Aber es geschah ja schließlich auf Befehl und zum Wohle meines Vaterlandes.
Wie und wo man richtig zu essen hat, wurde uns Rekruten natürlich auch eingehend gezeigt. Insbesondere der Weg zur Mannschaftskantine, den keiner von uns Neuen wohl ohne die Hilfe unserer Ausbilder alleine gefunden hätte, wurde trainiert. Dazu muss man sagen: Die Kantine lag direkt gegenüber. Aber wenn du Rekrut bist, darfst du das natürlich nicht so einfach feststellen und damit deine Ausbilder in Verlegenheit bringen.
Das steht einem erst nach der ersten Beförderung zu. Auf dieses kleine Detail wurde in der Ausbildung immer besonders viel Wert gelegt, und ich kann mich tatsächlich an keinen Tag meiner Grundausbildung erinnern, an dem ich diesen Weg hätte mal alleine laufen dürfen, obwohl ich ihn echt schon nach drei Tagen so einigermaßen kannte.
Es wurden mir und meinen Kameraden noch viele nützliche Dinge beigebracht, von denen wir alle bis dahin geglaubt hatten, sie schon längst zu wissen, und als die drei Monate vorbei waren, glaubten das unsere Ausbilder endlich auch. Um aber ganz sicher zu gehen, dass wir auch wirklich alles richtig verstanden hatten, wurden wir Teilnehmer einer Generalprobe, während der man uns noch einmal ausgiebig über alle Themen der letzten drei Monate befragte und unserer Antworten entsprechend bewertete. Wer fast alles wusste, bekam ein Abschlusszeugnis und wurde aus der Ausbildungseinheit entlassen, um zukünftig Dienst in einer ihm zugeteilten Einheit irgendwo in Deutschland zu tun.
Ich wusste fast alles. Und so machte auch ich mich als »erfolgreich geprüfter und bestandener Soldat« auf den Weg in meine neue Einheit, die mir für die nächsten Jahre Geborgenheit, Nähe und Wärme schenken sollte. Ja, ich freute mich tatsächlich auf die »Mutter der Kompanie«, von der ich bereits so viel gehört hatte und war gespannt, ob sie mich mit offenen Armen und einem warmen Lächeln als neues Mitglied der Familie empfangen würde.
Kaum war ich eingerückt in der Kaserne meines Vertrauens, dort, wo ich nun für die nächsten Jahre meines Lebens meinen Dienst für Frieden und Vaterland versehen würde, da ereilte mich die Nachricht meines neuen Kompaniechefs, dass er mich gerne sprechen würde und ich mich doch bitte melden sollte, sofern es meine Zeit denn zuließe. Glauben Sie nicht? Na ja, eigentlich stand der Kompaniefeldwebel wie Phönix aus der Asche plötzlich hinter mir, brüllte irgendetwas von Major, jetzt, sofort und zackzack und im Laufschritt und so weiter. Und ohne jetzt schon zu viel zu verraten, muss ich sagen: »Der hat sich auch die nächsten Jahre meines Dienstes nicht wirklich zu seinem Vorteil verändert.«
Glücklicherweise war ich, was das Brüllen betraf, in den letzten drei Monaten so was von resistent geworden, dass bei uns zu Hause bereits viermal die Polizei vorbeigeschaut hatte. Die Nachbarn hatten wohl gedacht, es könnte sich bei dieser Lautstärke, die aus unserem Haus drang, tatsächlich nur um eine Familienstreitigkeit handeln, die sich kurz vor der Eskalation befand. Dabei hatte ich meiner damaligen Frau einfach nur aus purer Gewohnheit im Kasernenton eine gute Nacht gewünscht und sie gebeten leise zu sein, damit die Kinder nicht aufwachen.
Aber zurück zum Thema: Der Kompaniechef und seine Bitte um ein Gespräch.
Eine Kommandierungsverfügung für die Teilnahme an einem Häuserkampflehrgang läge vor, teilte man mir mit. Und es wurde die Bitte an mich herangetragen, diesen Lehrgang gefälligst wahrzunehmen und meinen gerade eben eingeräumten Spind im Gegenzug wieder freizugeben. Habe ich natürlich sofort getan, denn wer die Gepflogenheiten der Bundeswehr kennengelernt hat, der weiß, dass man seinem Kommandanten einen solchen Wunsch nicht einfach so mal eben abschlägt.
Ich meldete mich also wieder an meinem Heimatstandort ab und zog los, neues Wissen zum Verhalten und über taktisches Vorgehen zu erlernen, das notwendig ist, um in einem möglichen Krieg ganze Straßenzüge, ja, ganze Städte zu erobern und viele, viele Gefangene zu machen… oder eben auch nicht. Kaum zurück vom Straßenkampf und in freudiger Erwartung, jetzt vielleicht einmal meinen Spind einräumen zu können, um dem geregelten Rhythmus eines deutschen Soldaten nachzugehen, fand ich mich erneut in der mir schon wohlbekannten Zeitspirale wieder, in der ein Kompaniefeldwebel in meinem Schatten auftaucht, mir zackzack und so weiter ins Ohr brüllt und ich wieder auf dem Weg nach Irgendwohin bin.
Bereits da beschlich mich das ungute Gefühl, dass ich vielleicht unerwünscht sein könnte. Warum, das war mir aber noch nicht ganz so klar. Einzelkämpfer sollte ich werden, was ich im ersten Moment nicht direkt überbewerten wollte, denn schließlich hatte ich ja bereits in der Grundausbildung die eine oder andere Stunde alleine im Wald verbracht, ohne dass gleich die Welt stehengeblieben wäre.
Also habe ich mal wieder artig ja gesagt, weil mein Kompaniechef doch eigentlich einen recht netten und patenten Eindruck machte und die angenehme Art hatte, mir die Dringlichkeit eines Befehls so zu vermitteln, dass ich einfach nicht anders konnte als anzunehmen. Drei volle Monate fand ich zwar schon echt lang, aber meine Grundausbildung hatte ja in etwa den gleichen Zeitrahmen in Anspruch genommen. Was sollte also so besonders und anders an diesem Lehrgang sein, dass ich nicht schon aus meiner Grundausbildung kannte?
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