So einfach war das.
„Kennen Sie Picassos Studien über die ‚Weinende Frau’, ich meine seine Bildkompositionen über das Motiv in der linken Hälfte seines Gemäldes ‚Guernica’?“
„Natürlich. Sie entstammen der männlichen Seele, der Erkenntnis eines Ausnahmekünstlers. Sie sind die Ikonen der Leidensgeschichte unserer Zeit. Jede Frau sollte sie kennen. Die ‚Weinende Frau’ beklagt den physischen und seelischen Missbrauch. Sie ist das moralische Gewissen der Menschheit. Durch ihr Leiden rettet sie die Würde unseres Daseins.“
Was Olivia mir unterbreitete, beantwortete etliche Fragen, die ich mir in Bezug auf Varanda gestellt hatte. Zum Beispiel, warum sich die Autorin dermaßen auf das Bild im Patio Montebarros eingeschworen hatte. Es schien, als sei sie selbst eine Weinende, um Hilfe Schreiende, vielleicht Missbrauchte. Welches Unrecht konnte ihre Wut ausgelöst haben?
Ich musste nicht nur Laura Bascasa, sondern auch Lea Varanda finden. Vielleicht konnte mich die Autorin zu Laura führen. Irgendeine Verbindung zwischen den beiden musste es geben.
„Ich sehe, dass gewisse Dinge durch die Brille der Frau anders aussehen. Sie haben die Sache auf den Punkt gebracht, ohne das Buch des Bouquinisten zu kennen. Nur, weil Sie eben eine Frau sind. Was ich Ihnen nicht gesagt habe, ist, dass in dem Buch eine Notiz steckte, die mich beunruhigt. Sie stammt von einer Frau, deren Leben offenbar bedroht ist. Ich habe mich deshalb entschlossen, meine Reisepläne zu ändern und morgen nach Madrid zu fliegen, um am Sitz des Verlags Eslibros herauszufinden, wo ich die Buchautorin finden kann. Durch sie hoffe ich, die Verfasserin der Notiz aufzuspüren.“
„Das ist ja toll. Sie verbinden Ihre Ferienreise mit der detektivischen Suche nach einer weinenden Frau. Ich darf wohl annehmen, dass die Buchautorin eine solche ist. Darf ich auch vermuten, dass Sie Akademiker sind, vielleicht aus dem Bereich Literatur?“
„Ja, das dürfen Sie und ja, Sie liegen richtig.“
„Ich will Ihnen nicht zu nahetreten, aber planen Sie, dem Museum Reina Sophia, wo ‚Guernica’ ausgestellt ist, einen Besuch abzustatten?“
„Das habe ich tatsächlich vor. Können Sie jetzt auch noch Gedanken lesen?“
„Dazu brauche ich keine Gedanken zu lesen. Männerhirne funktionieren auf der Grundlage der Logik.“
„Sie sind eine gute Psychologin. Wollen Sie mich begleiten?“
„Nein, aber ich möchte mit Ihnen in Kontakt bleiben. Es interessiert mich, was bei der Geschichte herauskommt. Geben Sie mir Ihre Handynummer. So können wir per SMS in Verbindung bleiben. Ich hoffe, Sie besuchen mich in Sevilla.“
„Gut, bleiben Sie noch hier?“
„Noch ein paar Tage, dann geht’s zurück nach Hause. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.“
„Es war schön, Sie kennenzulernen. Ich danke Ihnen für alles.“
Mit elegantem Schritt entfernte sich Olivia. Bevor sie die Treppe erreichte, blickte sie kurz zurück, dann verschwand sie. Ich fragte mich, ob dieses Zusammentreffen reiner Zufall oder irgendwie geplant war. Wie dem auch sei, Olivia gefiel mir, sie war eine intelligente Frau. Ich entschloss mich, am Ufer der Seine eine Bank zu ergattern und das Buch zu Ende zu lesen. Zuvor beauftragte ich die Empfangsdame des Hotels, für den nächsten Tag einen Flug nach Madrid zu buchen.
„Hier soll ich wohnen?“
Lise sah sich im Salon um und blickte auf das Bett, wo sich bisher französische Prostituierte mit deutschen Wehrmachts- und SS- Angehörigen vergnügt hatten. Es stand in der Mitte des Raums und war mit Velours bedeckt. Daneben erinnerten ein antiker Tisch und zwei Stühle an die Zeit von Luis Philippe. Ein Perserteppich lag auf dem Parkett. Eine Vase mit frischen Blumen schmückte den Fenstersims.
„Ich gebe zu, der Unterschied zu Ihrem vorherigen Logis ist erheblich, aber ich kann Ihnen keine einfachere Bleibe anbieten. Es blieb keine Zeit, die Möblierung zu ändern. Versuchen Sie, darüber hinwegzusehen. Es hat keine Bedeutung, was sich vorher in diesem Zimmer abgespielt hat. Wichtig ist, dass Sie eine Chance haben zu überleben, Lise.
Übrigens, wäre es Ihnen unangenehm, mich Walter zu nennen? Es würde unsere Situation entkrampfen.“
„Ich habe mein ganzes Leben lang nicht in einem solchen Bett geschlafen. Ich finde das Ganze irgendwie anrüchig. Es macht mich zur Hure. Nein, ich kann das nicht ... Und Walter? ... Unmöglich.“
„Nenn mich, wie du willst. Ich bitte dich nur, zu bleiben. Ich kann dich jetzt nicht mehr zurückbringen. Es wäre unser beider Todesurteil.“
„Erpresser!“
Der Deutsche schmunzelte.
„Ein bisschen Druck ist bei einer so widerspenstigen Partisanin nötig. Nochmals: bleib einfach hier. Ich will nicht abstreiten, dass dieses Zimmer besser zu einer Hure passt. Aber nochmals: es tut nichts zur Sache. Ich will dich nicht zu meiner Geliebten machen.“
Lise stand lange reglos da. Sie war unschlüssig. Was, wenn dieser Walter sich nicht an seine Worte hielt? Er war ein Nazi und er hatte sie in der Hand. Es gab keine Garantie, dass er die Situation nicht ausnützte. Sie saß in der Klemme. Alles hing von ihm ab.
Sie drehte sich um und blickte ihm in die Augen. Erinnerungen an den Verhörkeller stiegen auf. Sie sah die Pritsche des Verlieses vor sich, spürte die Schläge der Folterer auf ihrem Rücken, die brennenden Zigaretten auf ihren Brüsten.
Plötzlich überwältigte sie die Sehnsucht nach Leben, nach Geborgenheit und Schutz. Bilder aus früheren, glücklichen Zeiten tauchten auf. Sie dachte an ihre Eltern, die sie so geliebt hatte. Nachdem sie von der SS abgeholt worden waren und sie sich aus ihrem Versteck auf dem Dachboden hervorgewagt hatte, stand ihr Entschluss fest, sich der Résistance anzuschließen. Der Überfall der Nazis auf das Hauptquartier der Partisanen hatte ihrem Wagemut nach kurzer Zeit ein jähes Ende bereitet.
Auch wenn es nur ein Strohhalm war, sie musste nach ihm greifen. Wie von selbst bewegten sich ihre Beine und machten einen Schritt auf den SS-Offizier zu.
„Also gut ..., Walter. Wie stellst du dir unser Zusammenleben vor? Kann ich die Türe zu meinem Zimmer mit einem Schlüssel schließen? Kann ich mich waschen? Was soll ich anziehen? Ich habe keine Kleider.“
„Der Schlüssel steckt im Schloss. Er gehört dir. Wir haben ein gemeinsames Badezimmer, es kann verschlossen werden. Einige Kleider hängen im Schrank. Sie gehören dir.“
„Hurenkleider?“
„Nein.“
„Bekomme ich zu essen?“
„Wir werden abends zusammen in meinem Zimmer essen. Es gibt eine kleine Kochnische. Zudem kann ich Lebensmittel aus der Hotelküche besorgen.“
Walter betrachtete die Frau. Er erschrak. Im Verhörraum war ihm der klägliche Zustand seiner Gefangenen weniger aufgefallen als hier in den schmucken Räumlichkeiten des Hotels. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen, damit ihn die Schamröte nicht verriet. Dann drehte er sich um, öffnete den Schrank und reichte Lise einen Bademantel.
„Seife ist im Badezimmer. Ich werde unterdessen etwas zum Essen besorgen. Nimm dir Zeit. Nachdem du offensichtlich abgehauen bist“, Walter lächelte verschmitzt, „werde ich noch bei der Militärverwaltung vorbeigehen, um einen Suchtrupp loszuschicken. Man wird dich dann in den Wäldern der Umgebung suchen, natürlich vergeblich. Ich muss auch deine Gefangenenakte an der Rue des Saussaies ergänzen. Dein Entkommen wird auf Seite 16 gebührend Erwähnung finden.“
Als Müllheim mit einer Einkaufstasche zurückkehrte, stand die Badezimmertüre offen. Es duftete nach frischer Feuchtigkeit. Die Türe zu Lises Salon war zu. Der SS-Mann kochte eine Gerstensuppe mit Lauch, dazu französische Saucissons. Auf dem Tisch standen jetzt eine Flasche Rotwein, Wasser, Brot und ein Früchtekorb.
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