Ich schlage Ihnen vor, Sie bei mir zu verstecken, sich sozusagen in freiwillige Gefangenschaft zu begeben, bis die Alliierten Paris zurückerobert haben. Das Risiko für dieses Unterfangen ist für mich ebenso groß wie für Sie. Es setzt voraus, dass wir uns beide hundertprozentig aufeinander verlassen können. Ich weiß, dass es schwierig für Sie ist, mir zu vertrauen, nach allem, was geschehen ist. Aber vergessen Sie nicht, dass ich auf Ihr Geständnis verzichte.“
Schweigen.
„Lise?“
Schweigen.
Müllheim kroch kalter Schweiß über den Rücken. Hatte er sich verrechnet, sich falsche Hoffnungen gemacht? Wenn die Partisanin quatschte, konnte er bald selbst im KZ landen. Die Frau blickte ihm in die Augen. Ihr Gesicht war mit Tränen und Blut verschmiert. Aus ihren Augen sprachen Unverständnis und Zweifel.
„Nein.“
Was sollte er sagen?
„Rufen Sie Rüpke.“
Der Gestapo-Mann erbleichte.
„Keine Angst, ich werde Sie nicht verraten.“
„Ist das Ihr letztes Wort?“
„Ja ... Danke.“
Müllheim griff entsetzt zum Telefon.
„Rüdiger, du kannst sie holen.“
Die Türe öffnete sich sofort und der bullige Kerkermeister griff nach der Gefangenen.
„Und? Wie weit sind wir heute?“
„Rüdiger, ich will, dass du für morgen um zehn Uhr einen Wagen bereitstellen lässt. Wenn ich Platz genommen habe, bringst du mir Nummer 326.“
„In den Wagen?“
„Ja, in den Wagen. Sie will mir zeigen, wo ihre Partisanenfreunde versteckt sind. Kapiert?“
„Echte Fortschritte?“
„Ja, vergiss nicht, ihr einen Mantel mitzugeben.“
Lise warf dem Offizier wütende Blicke zu und wehrte sich vehement gegen Rüpke. Dieser holte bereits zu einem Schlag aus, als Müllheim vortrat und ihn zurückhielt.
„Du rührst sie nicht mehr an. Verstanden?“
„Ich werde machen, was ich kann.“
Müllheim stellte sich vor die Partisanin und versuchte, den Ausdruck ihrer Augen zu interpretieren. Sie stieß ihn jedoch aus dem Weg und dreht sich zu Rüpke. Beim Hinausgehen blickte sie zurück. Eine Träne löste sich von ihren Wimpern.
... Warum bist du so stur, Lise? Warum hast du seinen Vorschlag nicht angenommen? Ich spüre, dass du dich zu ihm hingezogen fühlst. Anders kann ich mir deine Tränen nicht erklären. Dein Inneres presst sie aus deinen Augen, weil deine Gefühle nicht zurückzuhalten sind. Ich zumindest fühle, wenn ich weine, wie sich meine Emotionen lösen und das Innerste herausbricht, gleich einem Wasserfall, der sich aus dem Felsen ergießt. Ich weiß, dass dein Schmerz unendlich ist, aber was macht es für einen Sinn, dich deinen Prinzipien zu unterwerfen und alle Poren zu verschließen? Eines Tages wird es zur Implosion kommen und dann, meine Liebe, wirst du vor der Tragödie deines Lebens stehen (und an mich denken).
Dr. Fernandez sagte mir gestern, dass jeder Mensch einmal vor der Wahl steht, das Leben, wenn es unerträglich ist, entweder als eine Verpflichtung anzunehmen, oder es wegzuwerfen. Er sprach natürlich über meine Depressionen, die mich wieder verfolgen, seit ich in meinem Tagebuch über diese schreckliche Nazizeit schreibe. Ja, ich habe schon darüber nachgedacht, mein Leben zu beenden. Wenn Eufemia nicht wäre ..., ich hätte es wahrscheinlich getan. Nur, wie macht man das, das Leben einfach wegwerfen? Wenn solche Gedanken durch meinen Kopf gehen, dann denke ich, dass du genau dies tun wolltest, als du dein unglaubliches Nein herausgelassen hast. Natürlich, du musst es nicht einmal selbst tun. Rüpke wäre sofort bereit, dich zu Tode zu prügeln. Aber mal ehrlich: würdest du ihm diese Freude gönnen?
Lise, ich bitte dich, überleg es dir nochmal. Du bist eine kluge Frau. Du musst deinen Stolz besiegen. Es ist keine Niederlage, wenn du der Versuchung nachgibst, dein Leben zu retten. Jeder unnütze Tod ist es Wert verhindert zu werden. Und jeder Tod, den man diesen Nazischweinen entziehen kann, birgt in sich einen Funken Hoffnung, dass einmal alles vorüber ist und die Würde des Menschen zurückkehrt.
Ich spüre, dass dich der Gestapo-Offizier liebt, nicht körperlich, oder zumindest nicht ausschließlich, sondern wirklich. Einem Menschen, der liebt, sollte man vertrauen. Das meine ich, obwohl es mir nie vergönnt war, einen solchen zu finden. Die Ärzte sagen, es sei nicht notwendig, und auch nicht jedem gegeben, einen Partner zu finden, den man lieben kann. Ich bin da anderer Meinung. Wen soll man sonst lieben, etwa Gott? Was mir widerfahren ist, hat mich eher in den Wahnsinn getrieben, als zu Gott. Damit will ich nicht sagen, dass ich nicht verstehen kann, wenn Menschen ihre Liebe bei Gott finden. Aber es ist einfach nichts für mich. Und ich glaube, dass das auch für dich nichts ist. Du bist zu stark. Gott liebt die Schwachen. Du kannst deine Liebe unter Verschluss halten, du kannst sie sogar so stark in dir einschließen, dass dir nur ab und zu eine einzelne Träne entweicht.
Ich finde, du hast es jetzt wirklich zu weit getrieben. Das Einsperren deiner Gefühle wird dich zerstören, denn sie können stärker sein als du es wahrhaben willst. Du musst deine Verletzlichkeit bewahren, auch wenn du hundertmal verletzt wurdest. Sonst siegt dein Peiniger. Glaub mir, Lise, wenn ich nach meiner schändlichen Demütigung meine Verletzlichkeit nicht zurückgefunden hätte, wäre der Wahnsinn wie ein Felsschlag über mich hereingestürzt.
Dr. Fernandez hat mir einmal gesagt, die Psychose sei wie ein verzweifelter Versuch der Seele, die Verletzungen des Menschen abzudichten und einzusperren. Aber das ist nun wirklich nicht die Lösung. Auch wenn die Ängste dadurch unter Verschluss geraten, ist es zumindest für meinen Fall besser, meine körperliche Hülle durchlässig zu halten für die schmerzhaften Verwundungen, die mir das Leben beigebracht hat.
Aus diesem Grund kann ich auch zulassen, deine Not und Verzweiflung, deine Schreie und Tränen in mir aufzunehmen und sie ebenso zu empfinden wie du. Wenn mein Doktor sagt, ich bilde mir das alles nur ein, niemand könne die Schmerzen anderer empfinden, dann glaube ich ihm einfach nicht. Niemals könnte ich dir sonst nahe sein, niemals dich verstehen. Und übrigens, wer fühlt eigentlich die Schmerzen, er oder ich?
Es ist mir gleichgültig, was die anderen sagen. Ich habe meine Meinung, auch wenn man mich in der Klinik festhält und mir nicht zutraut, dass ich auf eigenen Füssen stehen kann. Und ich meine, wenn ich mit blauen Flecken erwache, weil mich der Kerkermeister in der Nacht geschlagen hat, dann ist das keine Einbildung. Eufemia kann noch so viele Male sagen, dass sie nichts sieht. Aber wer spürt es? – Ich.
Hoffentlich, Lise, bringt der morgige Tag für uns beide die Erlösung. Für dich die Flucht aus dem Kerker und für mich den schönsten Eintrag in meinem Tagebuch, den ich je geschrieben habe: dass das Leiden zu Ende ist.
Als der SS-Offizier am nächsten Morgen ins Freie trat, stand eine schwarze Limousine bereit. Es war ein wolkenloser Frühlingsmorgen. Die Vögel zwitscherten fröhlich, als versuchten sie, das Heulen des Grauens hinter den Mauern des Gestapogebäudes zu übertönen. Müllheim setzte sich ans Steuer und wartete. In seinem Kopf herrschte ein Durcheinander. Er wusste, dass er auf alle Eventualitäten gefasst sein musste. Und doch hatte er keinen konkreten Plan, wie er vorgehen würde, wenn die Partisanin Widerstände machte. Gestern hatte er vorsorglich Bernard Mésier, den Besitzer des Hotels ‚La Chappel’ aufgesucht. Der alte Schleimer war ganz versessen darauf gewesen, ihm einen Dienst zu erweisen. Er hatte sofort seinen Schlüsselbund hervorgeholt und den Salon neben seinem Quartier von außen verschlossen.
Der Gestapomann blickte nervös auf die Uhr. Es war schon zehn Minuten nach zehn. In diesem Augenblick hörte er das Zuschlagen der hinteren Wagentüre. Im Rückspiegel sah er die in einen viel zu großen Mantel eingehüllte Jüdin. Der Offizier stieg aus und öffnete die Türe.
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