Als Bewern den Jungen über die Schwelle schob und sich überhöflich verbeugte, wusste Roman sofort, was der Hofmarschall von ihm hielt. Er blickte den beiden entgegen, ohne aufzustehen.
Bewern verbeugte sich noch einmal tief und begann in leidendem Ton zu sprechen: „Verzeiht edler Fürst, dass ich Euch im Augenblick keinen anderen Diener bieten kann, als diesen dreckigen Nichtsnutz. Undidor ist voller Gäste und es ist keine Hand frei. Graf Cargiji war so großzügig, diesen Leibeigenen dem Hof zu überlassen, es ist das einzige, was im Augenblick zu Eurer Verfügung steht. Es ist mir wirklich sehr unangenehm...“
Der Hofmarschall redete weiter und weiter, während der Junge mit gesenktem Kopf daneben stand. Seine Kleidung bestand nur aus Lumpen. Die Hose mochte einmal eine Satteldecke gewesen sein, jetzt reichte sie in Fetzen kaum über die aufgeschlagenen Knie. Über einem Hemd undefinierbarer Farbe trug er eine Weste aus Sackleinen. Überall sah man Flicken und Nähte, einige grob und ungelenk, andere offensichtlich feiner und scheinbar die Arbeit einer Frau, immer erfolglosere Bemühungen, die zerfallenden Kleidungsstücke zusammen zuhalten. Roman stutzte kurz, als er unter dem Hemd eine leichte Aufwölbung wahrnahm. „Er trägt tatsächlich eine Waffe“, dachte er erstaunt und fragte sich, ob dieser Hofmarschall einen Anschlag auf ihn plante. Niemals hätte Roman in Gorderley gewagt, einen Jungen in Tores Alter, er mochte dreizehn oder vierzehn Jahre zählen, zu unterschätzen. In diesem Alter führte ein Knappe bereits das Schwert seines Herrn, aber hier in Brandai waren die Knaben noch Kinder, keine Gegner.
Nein, es war sogar sehr wahrscheinlich, dass Bewern gar nichts von der Waffe wusste. Roman hatte keine rechte Vorstellung von dem Status eines Leibeigenen. Nach dem Verhalten des Hofmarschalls musste es sich um eine Art Sklaven handeln, die vernarbten Knöchel ließen zumindest vermuten, dass er längere Zeit Ketten getragen hatte und auch die Handgelenke wiesen ähnliche Male auf. Es war jedenfalls nicht zu erwarten, dass er überhaupt eine Waffe besitzen durfte!
Noch immer lamentierte Bewern über die mangelnden Qualitäten dieses notdürftigen Dieners, der ob seiner Widerspenstigkeit auch noch ständige Aufsicht und eine harte Hand benötige… Die Situation war grotesk. Außer dem König und dem Prinzen gab es keine ranghöhere Person am Hof als den Fürsten. Ihm stand jeder Diener zu, den er nur wünschte, und niemand wusste das besser als der Hofmarschall. Was also bezweckte er mit diesem Affront?
„Wie heißt du?“
Der Junge schreckte zusammen, als der Fürst ihn ansprach. Dann sah er auf. Sein Mund öffnete sich halb, aber er antwortete nicht. Für einen Augenblick schienen seine dunklen Augen aufzublitzen, dann wurden sie ausdruckslos. Er schluckte und blickte wieder zu Boden.
Bewern hieb ihm die Faust in die Seite, so dass er einen Schritt vorwärts taumelte, aber außer einem Luftschnappen entschlüpfte ihm kein Schmerzlaut. „Antworte dem Fürsten“, befahl der Hofmarschall und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Während er den Jungen am Nacken gepackt hielt und wie einen nassen Sack schüttelte, sprach er zum Fürsten gewandt weiter: „Die Kröte heißt Tore. Er weigert sich zu sprechen, ein renitenter Nichtsnutz!“ Eine weitere Ohrfeige klatschte in das Gesicht des Jungen, gefolgt von einem Fausthieb, der seinen Kopf herum stieß und die Lippen aufplatzen ließ.
„Warte nur, du Bengel, deine Unverschämtheit werde ich dir schon austreiben. Antworte jetzt, oder ich lasse dich nochmal auspeitschen bis du um Gnade winselst...“ Er hob die Hand zu einem weiteren Schlag, als der Fürst ihn unterbrach: „Ich glaube ich werde allein mit ihm fertig.“
Roman traute kaum seinen Augen, als er sah, wie der Hofmarschall den Jungen schlug. Wenn er jemals einen Funken Achtung für den Hofbeamten verspürt hatte, erstarb dieser mit der ersten Ohrfeige. Ein Diener in Gorderley hatte zwar im Dienste seines Herren kaum Rechte, er trat ihn jedoch zumindest immer freiwillig an. Und wenn er den Zorn seines Herrn erregte, mochten die Strafen oft hart sein, Hunger, Kälte oder auch Schläge durch den Stockmeister, aber niemals würde ein Mann von Ehre sich dazu herablassen, einen so tief unter ihm stehenden Menschen eigenhändig zu verprügeln. Roman versteckte seine Abscheu hinter einem nichtssagenden Gesichtsausdruck. Seine Worte hatten Bewerns Redeschwall unterbrochen. Der Hofmarschall hielt den Jungen, der mühsam versuchte auf den Beinen zu bleiben, noch immer am Nacken fest.
Plötzlich wurde dem Fürsten klar, was die ganze Vorstellung bezwecken sollte.
„Gut. Ich nehme ihn.“
Es war ein Vergnügen anzusehen, wie Bewerns Gesicht förmlich in sich zusammenfiel. Offensichtlich hatte er nicht mit einer solchen Wendung gerechnet. Roman brauchte diese Bestätigung nicht mehr, um ihn zu durchschauen: Man bot ihm zunächst einen indiskutablen Diener an, den er ablehnen sollte. Unter angeblich größten Mühen würde Bewern schließlich einen anderen Diener herbeischaffen, der zweifellos die Ansprüche des Fürsten erfüllen würde. Und diesen konnte er dann kaum noch ablehnen, obwohl er mit Sicherheit ein Spitzel war.
Es störte Roman nicht, überwacht zu werden, es hätte ihn im Gegenteil sehr verwundert, wenn das nicht geschähe, aber doch nicht auf eine solch durchsichtige Weise und schon gar nicht durch diese würdelose Figur von Hofmarschall.
Bewern schluckte. „Ähm., edler Fürst, vielleicht habe ich doch noch einen anderen Diener... ich meine...dieser Bengel..möglicherweise morgen..“
„Bemüht Euch nicht weiter. Er reicht mir. Richtet dem Grafen Cargiji meinen Dank aus“, unterbrach Roman ihn kalt.
Noch einmal öffnete Bewern den Mund, aber er kam nicht dazu, etwas zu sagen.
„Ihr dürft Euch entfernen.“
Bewern wurde blass. Noch niemals hatte jemand gewagt, in dieser Weise mit ihm zu sprechen. Die Worte des Fürsten waren ein glatter Hinauswurf - wusste der Fürst, mit wem er sprach?
Er presste die Zähne zusammen, als er den Fürsten ansah. Roman von Gorderley wusste genau, mit wem er sprach, schlimmer noch, es war ihm offensichtlich vollkommen gleichgültig. Wütend verbeugte sich Bewern und zog sich rückwärts zur Türe zurück. „Es war mir eine Ehre, Euch behilflich zu sein“, quetschte er mühsam hervor, aber er bekam nicht einmal eine Antwort. Aus den Augenwinkeln sah er den Jungen noch immer im Zimmer stehen und musste sich beherrschen, die Türe nicht mit einem Knall hinter sich zuzuschlagen. Er wusste nur zu gut, dass keine Strafandrohung verhindern würde, dass seine klägliche Niederlage in Windeseile in der Burg, nein in ganz Undidor bekannt sein würde.
Als sich die Türe hinter dem Hofmarschall geschlossen hatte, blickte Roman wieder auf den Jungen. Die Nackenmuskeln waren angespannt und das mühsam unterdrückte Zittern der Schultern verstärkte sich, als er näher trat. Mit einer schnellen Bewegung griff er nach dem Gürtel, schob die Weste zur Seite und riss den Gegenstand heraus, der unter dem Hemd versteckt war. Ein erstickter Laut war die einzige Gegenwehr, dann sackte die traurige Gestalt noch mehr zusammen.
Nachdenklich musterte Roman seinen Fund. Man konnte es kaum ein Messer nennen. Der Junge hatte ein Stück Eisenbeschlag an den Kanten abgeschliffen und ein Ende mit Hanf umwickelt. Eine armselige Waffe, die ihn unendliche Stunden Mühe gekostet haben musste, ganz abgesehen von der Gefahr der Entdeckung.
Roman legte das Messer auf den Tisch und wandte sich dem Jungen zu - Tore, korrigierte er sich, der sich nicht von der Stelle bewegt hatte und nun zitterte wie Espenlaub.
„Zieh dein Hemd aus!“
In Tores Welt gab es nicht einmal den Gedanken an Widerstand gegen den Befehl des Fürsten, dennoch begann er quälend langsam, sein Hemd über den Kopf zu streifen. Schließlich stand er wieder da, mit hängenden Schultern und tief gesenktem Kopf, während Roman sprachlos den mageren Oberkörper betrachtete, der mit grünen und blauen Flecken übersät war, Spuren alter und neuer Schläge. Unter dem Schlüsselbein bildeten fünf nebeneinander liegende Striche eine alte Brandnarbe. Die andere Narbe war frischer. Die Haut spannte sich hellrot in Form eines „C“ um die weißlichen Linien des alten Males.
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