Selbst jetzt registrierte Roman tausend Einzelheiten der Burg, verglich das Gesehene mit seinen bisherigen Informationen und zeichnete das Bild im Kopf nach. Die Befestigungsanlagen waren gewaltig. Selbst wenn es einem Eroberer gelang, die Stadt einzunehmen, schien es schier unmöglich, diese Festung zu stürmen. Hier fand Roman die überlegte Planung, die er in der Stadt vermisst hatte. Wer Burg Telmhorst erbaut hatte, war ein Meister der Kriegskunst gewesen, zumindest im Hinblick auf den Festungsbau. Die zahlreichen Gärten und Innenhöfe waren zweifellos in späteren Zeiten angelegt worden.
Sie durchquerten mehrere hohe Hallen, die mit farbigen Marmorfliesen, bodenbündigen Spiegeln, kostbaren Kristalllüstern und goldbemalten Seidentapeten ausgestattet waren und mit ihrer Pracht und Großzügigkeit den Zweck hatten, Besucher zu beeindrucken. Roman verstand den Sinn dieser Führung durchaus, wenn sie ihre Wirkung auf ihn auch verfehlte – Reichtum galt in Gorderley nur begrenzt als ein Merkmal von Macht. Sie hielten in einem Vorraum vor einer mit Edelsteinen verzierten Doppelflügeltüre. Zwei Krieger in dunkelblauen Westen ohne jede Insignien wichen zur Seite und Grund von Zollberg legte die Hand auf den Türgriff. Nach einem kurzen Moment stieß er beide Flügel auf, trat einen Schritt vor und rief in den Saal: „Fürst Roman von Gorderley.“
Als Roman an ihm vorbeiging neigte er den Kopf und flüsterte: „Wenn Ihr ihm nur ein Haar krümmt, werde ich einen Weg finden, Euch zu töten.“
Mit keiner Miene verriet Roman, dass er die Worte überhaupt gehört hatte. Langsam schritt er auf den Thron zu. Links und rechts standen Ritter in voller Bewaffnung. Zwischen ihnen nahmen sich die unbewaffneten Mitglieder des Rates verloren aus. Mit seinem Eintreten verstummte sofort jedes Gespräch und alle Augen richteten sich auf die einsame Gestalt. Dort ging er, der Erbfeind, der hundertfache Mörder, der Rebell. Doch obwohl es niemanden im Saal gab, der den Namen Gorderley nicht schon verflucht hatte, konnte sich keiner der Aura von Stolz und Würde entziehen, die den Fürsten umgab. Sein gemessener Schritt ließ keinen Gedanken an Unsicherheit aufkommen, und selbst die Gegenwart der Überzahl brandaianischer Krieger schützte die Anwesenden nicht vor einem schnürenden Gefühl der Angst, das sich wie eine lähmende Wolke im Saal ausbreitete.
Als der Fürst die flachen Stufen zum Podest des Thrones erreichte, zucken einige der Würdenträger zusammen, denn er hielt nicht inne und wartete auf ein Zeichen zum Näherkommen, wie es die Hofetikette verlangte, sondern betrat die erste Stufe. König Melgardon von Derengold sah ihm gelassen entgegen. Er empfing den Sohn des Fürsten von Gorderley entgegen dem Rat seiner engsten Freunde und Berater. All ihre Versuche, ihn von einer teuflischen Hinterlist des Gorderley zu warnen, hatte er ignoriert. „Niemals schickt Elder von Gorderley seinen Sohn hierher, um mich vor den Augen des versammelten Rates umzubringen. Damit würde er jede Chance verlieren, ihn rechtmäßig zum König zu machen.“
Aber als Roman von Gorderley so unwahrscheinlich sicher heran kam, beschlich den König Zweifel. War der alte Gorderley so verrückt geworden, seinen Sohn zu opfern? Dass der junge Fürst die Etikette missachtete, wunderte ihn nicht. Obwohl er den Titel nicht trug, stand er durch die verschlungenen Beziehungen der Hohen Häuser in der Erbfolge im gleichen Rang wie Melwyn, war ein Prinz mit dem Anrecht auf den Thron von Brandai, berechtigter als jemals ein Gorderley vor ihm. Elder von Gorderley hatte genau dies geplant, als er Irana Derengold entführte und sie zwang, ihm einen Sohn zu gebären. Aber Melgardon wusste, dass er die Krone über die drei Reiche niemals einem Gorderley überlassen würde. Nicht umsonst gab es das Sprichwort „Es kommt nichts Gutes aus Gorderley.“
Roman stand nun direkt vor der zweiten Stufe.
Die Bewegung war viel zu schnell, als dass jemand reagieren konnte. Plötzlich hatte der Fürst sein Schwert in der Hand und hob den Arm. Für Bruchteile eines Herzschlags traf sein Blick den des Königs. Melgardon bewegte sich nicht, zuckte nicht einmal mit den Lidern. Hinter Roman ertönte ein Wutschrei und Bewegung kam in die Menge der Anwesenden.
Und dann sank der Fürst von Gorderley auf ein Knie, legte sein Schwert vor Melgardons Füßen ab und sagte leise, aber so klar, dass es jeder im Saal vernehmen konnte: „Ich, Roman von Gorderley, gebe mein Schwert, mein Leben und meine Ehre in Eure Hand.“
Absolute Stille hing im Raum. Die meisten glaubten sich verhört zu haben, aber der Fürst kniete mit gesenktem Kopf vor dem König und bot den ungeschützten Nacken dar. Sogar Melgardon hatte es die Sprache verschlagen. Der Gorderley musste wissen, dass ihn der Tod erwartete, wenn er in die Hände des Königs fiel. Warum dieses scheinbar sinnlose Opfer. Was war einfacher, als ihn sofort hinrichten zu lassen?
Der König fühlte die Spannung, mit der seine Antwort erwartet wurde und betrachtete die knieende Gestalt schärfer. „Es kommt nichts Gutes aus Gorderley“, warnte sein Verstand. „Nein“, dachte Melgardon verwundert, „er sieht aus, als wäre ihm jede Entscheidung recht. Bei den Unsterblichen, er wird dort bleiben, selbst wenn ich ihn mit seinem eigenen Schwert enthaupte.“ Viele Probleme ließen sich so buchstäblich auf einen Schlag lösen. Aber gerade die völlige Hingabe des Fürstensohnes ließ den König zögern. War es möglich, dass er es ernst meinte? Das käme einem Verrat an seinem Land gleich, und Verrat war das einzige Verbrechen, das für einen Gorderleykrieger undenkbar war. Andererseits brach ein Gorderley auch niemals einen geleisteten Eid.
Melgardon beugte sich vor und griff nach dem Schwert. „Soviel Blut klebt daran, und nicht wenig davon stammt von Brandai. Kann ich das alles vergessen?, fragte er sich flüchtig, aber sein Entschluss war gefasst. „Ein Schwert, sogar das Schwert von Gorderley ist nur soviel wert, wie der Mann, der es führt. Erhebt Euch, Fürst Gorderley!“ Er reichte ihm die Waffe mit dem Knauf voran. „Euer Leben lasse ich Euch, und nicht einmal meinem ärgsten Feind verweigere ich die Ehre, die ihm zusteht.“
Roman stand in einer weichen Bewegung auf und nahm das Schwert aus der Hand des Königs. Er steckte es jedoch nicht in die Scheide, sondern legte die blanke Klinge in die linke Hand. Fest sah er Melgardon in die Augen. „Dann schwöre ich bei meiner Herrin Eireana und allen Göttern Gorderleys Euch und Eurem Hause Treue und Gehorsam. Euer Wort soll meine Hand führen, Euer Befehl meinen Schritt lenken.“
Der König gab den Blick zurück, aber Roman wich nicht aus. Sein Kniefall hatte allen Anwesenden seine Unterwerfung gezeigt, aber den Treueeid leistete als Fürst, von Geburt und Tat einem der höchsten Häuser Eldorads entstammend. Schließlich nahm Melgardon den Eid mit einem leichten Kopfnicken an und gebot dem Fürsten mit einer Handbewegung, ihm zu folgen.
Hastiges Scharren und Raunen erhob sich, als er einem der angrenzenden Beratungsräume zustrebte und dem Gorderley den Rücken zuwandte. Einige Ritter und Grund von Zollberg eilten hinterher, aber Melgardon wies sie zurück. Graf Zollberg zögerte. Beinahe gequält warf er einen Blick auf auf den Fürsten und wollte protestieren, aber der König schnitt ihm das Wort ab: „Ich danke Euch für Eure Besorgnis, Graf. Aber ich bin in Anwesenheit des Fürsten Gorderley vollkommen sicher. Bitte wartet draußen.“
Das Zimmer zeigte mit einem breiten Fenster auf einen Garten und Melgardon schaute eine Weile schweigend hinaus, nachdem sich die Türe hinter dem Fürsten geschlossen hatte. Die Worte des Treueeides klangen ihm noch in den Ohren: Euch und Eurem Haus. Damit verzichtete der junge Fürst für alle Zeiten auf den Thron. Es war praktisch eine Anerkennung von Melwyn als Kronprinz. Wenn er, Melgardon, starb, würde der Schwur Melwyn gelten und jedem anderen Derengold nach ihm. Der König wusste, dass ein Eid in Gorderley eine viel weitreichendere Bedeutung hatte, als ein Brandai sich vorstellen konnte, und ein Eid im Namen eines Gottes, auch wenn eine Göttin Eireana in Brandai unbekannt war, wirkte immer verbindlich. Nach Melgardons Kenntnis gab es keine Möglichkeit diesen Eid zu brechen, ohne Ehre und Leben zu verlieren.
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