Er ließ seinen Blick über die Menschenmenge in den Straßen schweifen. Zwei- sogar dreistöckige Häuser säumten den Weg. In den untersten Stockwerken waren meist Geschäfte oder Kontore eingerichtet und die Türen standen weit offen. Überall hielten Fuhrwerke und wurden be- oder entladen. Auf dem Pflaster der breiten Straße mischten sich Abwässer mit verwehten Getreidekörnern, Pferdeäpfeln und Gemüseschalen. Aus einer Färberei spritze ein Schwall braunen Wassers über vorbei schlendernde Fußgänger und die Stute tänzelte erschrocken auf den nassen Steinen. Graf Zollberg ging ungerührt durch das Treiben und bahnte ihnen einen Weg. Ob er wirklich glaubte, mit fünf Wachen einen berittenen Krieger aus Gorderley in Schach halten zu können?
Wohl nicht. Die Eskorte diente eher zur Beruhigung des Volkes als seiner Bewachung. Roman strich seinem Pferd über den glatten Hals. Der Lärm, der unglaubliche Gestank von Exkrementen, die feuchte Luft, all das machte sie übernervös. Wie anders als Fern, immerhin Gorderleys größte Stadt, bot sich die Hauptstadt des Reiches dar, wie wenig königlich! Und sein analytischer Verstand fügte hinzu: Wie unsicher und leicht auszuspionieren. In dieser Menge konnte jeder Agent untertauchen, in den unübersichtlichen Straßenwirren vermochten einige gezielt gelegte Brände mehr Panik verursachen, als jeder offene Angriff. Es musste praktisch unmöglich sein, diese Stadt zu kontrollieren.
Beinahe unmerklich stieg die Straße an und der Trubel des Markttages blieb langsam hinter ihnen zurück. Sie durchquerten ein ausgedehntes Handwerksviertel, in dem ebenfalls geschäftiges Leben herrschte. Im Vorbeireiten nahm er die Auslagen war und kam nicht umhin, die Auswahl und offensichtliche Qualität der Angebote zu bewundern.
Allen Beschreibungen nach, näherten sie sich langsam der Burg. Obwohl er Undidor aus den Berichten seiner Spione kannte, war er beeindruckt von der Ausdehnung der Stadt. Ihre Fläche mochte dreimal die Größe Ferns übertreffen und was die Bewohner anging, so lebten allein hier soviel Menschen wie in allen Städten Gorderleys zusammen.
Schließlich blieb der Stadtkommandant vor einem einstöckigen, strohgedeckten Haus stehen, das in einer Seitengasse zwischen zwei größeren Gebäuden eingezwängt lag, ohne deshalb schäbig zu wirken. Zwei verglaste Fenster und eine Holztür zeigten zur Straße. Grund von Zollberg trat unter das überhängende Strohdach und öffnete die Türe. Wortlos sah er den Fürsten an, der vom Pferd glitt und eintrat. Innen gab es zwei Räume. In dem ersten standen ein Tisch, zwei Stühle und einige leere Regale. Neben dem Kamin war Holz aufgeschichtet. Durch die geöffnete Türe sah man in dem zweiten Raum ein flaches Bett. Eine weitere Türe schien in die Küche zu führen. Alles war unpersönlich und kalt aber sauber, offensichtlich brachte man hin und wieder Gäste der Stadt auf diese Weise unter.
Nach einem kurzen Blick nickte Roman und wollte wieder hinaustreten. Der Graf stellte sich in den Weg. „Ihr werdet hier bleiben, bis der König Euch rufen lässt. Ihr werdet dieses Haus bis dahin nicht verlassen!“ Diesmal, das ging aus seinem Tonfall deutlich hervor, war es ihm ernst. Roman lächelte spöttisch und deutete nach draußen: „Ich nehme an, Ihr werdet mein Pferd versorgen lassen. Es wird Schwierigkeiten geben, wenn ich das der Stute nicht klarmache.“
Grund von Zollberg zögerte nur einen Augenblick. Über dieses Pferd gab es beinahe so viele Legenden wie über den Mann, ohne Befehle seines Herrn würde es wahrscheinlich eher den Stall zertrümmern, als sich bändigen zu lassen. Fasziniert beobachtete er, wie der Gorderley in die schwarze Mähne griff und den Kopf der Stute zu sich zog. Sie schnoberte an seiner Hand und drückte ihre weichen Nüstern gegen seinen Hals. Er kraulte sie eine kurze Zeit zwischen den aufmerksam nach vorn gerichteten Ohren und wies sie leise an, mit den Fremden zu gehen. „Sie werden dich gut behandeln, meine Schöne. Die Brandai verstehen etwas von Pferden.“ Der Abschied fiel ihm beinahe schwerer als alles andere. Sie waren so weit zusammen geritten, dass er sich nicht vorstellen konnte, sie unter einem anderen zu sehen. Aber den Weg, der vor ihm lag, musste er allein gehen. Mit einem letzten Klaps auf den Hals wandte er sich ab und ging in das Haus, den Grafen sah er dabei nicht mehr an.
Der Tag verging, ohne dass der König ihn zu sich bat. Roman hatte es nicht anders erwartet. Er saß auf der Bank am Kamin und beobachtete das Sonnenlicht, das durch das Fenster breite Streifen auf den blankgeputzten Dielenboden warf. Langsam wanderten die Streifen durch das Zimmer bis die Häuser auf der anderen Straßenseite die tief stehende Sonne abdeckten und es dunkel wurde. Er kümmerte sich nicht um die Gesichter, die huschend am Fenster auftauchten, um einen Blick auf den berühmten Besucher zu erhaschen und zwang sich, weder daran zu denken, was geschehen war, noch daran, was ihn erwartete. Stundenlang beobachtete er die Staubkörnchen in der Luft und konzentrierte sich darauf, alle Gefühle hinter sich zu lassen.
Zweimal unterbrach der Eintritt einer Wache seine erzwungene Ruhe, einmal brachte man ihm Brot, Schinken und einen Krug Wasser, das zweite Mal Suppe, Braten, Obst und Wein. Er zündete die Kerzen nicht an, als die Nacht anbrach, sondern saß über Stunden in der Dunkelheit, bevor er sich niederlegte. Lang geübte Disziplin ließ ihn einschlafen, obwohl er keine Müdigkeit verspürte.
Noch vor dem Morgengrauen wurde er wach und erhob sich wieder. Die zweite Türe führte einige Stufen hinab in eine Küche. Es gab einen Ausgang, der wohl auf den Hinterhof führte. Roman vermied es zunächst, überhaupt in die Nähe dieser Türe zu kommen, um die dort mit Sicherheit postierten Wachen nicht zu provozieren, aber auf der Suche nach dem Abort trat er schließlich doch in den Hof. Ein Posten saß auf dem Rand eines kleinen Brunnens und sprang auf. Roman hatte das Aborthäuschen schon erreicht und versuchte den Brandai zu ignorieren. Es war demütigend, aber was blieb ihm anderes übrig?
Wieder im Haus begann erneut das Warten. Auf der Straße erwachte nach und nach das Leben. Karren rumpelten vorbei, verschlafene Stimmern riefen sich Morgengrüße zu, irgendwo bellte ein Hund bis er mit einem Jaulen verstummte. Das trübe Licht der Dämmerung zog in die Gasse und kündete den Morgen. Schritte und gemurmelte Worte vor der Türe zeigten einen Wachwechsel an, Roman registrierte es nur unterbewusst. Eine seltsame Ruhe erfüllte ihn. Nicht dass er bisher unsicher gewesen war, nein, diese Zweifel hatte er bereits überwunden, als er losritt. Aber bis jetzt war noch der Schmerz dagewesen. Zu viele Menschen glaubten an ihn, als dass er sie leichtfertig enttäuschen konnte. Doch nun lag auch das hinter ihm. Es war, als sei er in einen zeitlosen Raum außerhalb der Welt eingetreten, und so wurde er auch nicht ungeduldig, als der Vormittag verstrich, ohne dass etwas geschah.
Endlich näherten sich viele schwere Schritte und es klopfte. Bevor er etwas sagen konnte, öffnete sich die Türe und Grund von Zollberg trat ein. „Der König gewährt Euch eine Audienz in Gegenwart des Rates“, verkündete er formell und bedeutete Roman, voraus zugehen. Es waren diesmal zehn Wachen, die das Geleit ausmachten. Der Graf schritt schweigend an Romans Seite. Die Sonne stand hoch am Himmel und in der feuchten Schwüle der Stadt begrüßte Roman den leichten Wind, der angenehm kühl vom Fluss über die Dächer strich. Er reichte nicht aus, um das Banner des Königs über dem Burgtor flattern zu lassen, aber der Fürst von Gorderley kannte das Wappen des königlichen Geschlechts der Derengolds ohnehin: Die Sanduhr unter den gekreuzten Klingen, das Zeichen dafür, dass ihnen die Königswürde nur auf Zeit gegeben war. Hatten sie die Uhr nur aus Gleichgültigkeit nicht aus dem Wappen entfernt oder stand das Haus Derengold tatsächlich noch zu seinem uralten Eid?
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