„Tätest du auch, Mathilde. Nur paßt dir nichts. Du bist ja direkt fett.““
Bereits 1923 ist es eine schwere Beleidigung für eine Frau, dick genannt zu werden – und nun gar erst fett! Prompt bricht Mathilde in Tränen aus, schreit wutsprühend: „Hure! Hurenmensch! Sauhure!““ und stürzt ab zur Gnädigen, bei der eben grade auch Herr Quarkus seinen Einzug gehalten hat. Denn nun soll es losgehen aufs Land.
Sophie bleibt achselzuckend zurück. Ihr soll es egal sein, was kommt. Eigentlich hat sie das Leben hier reichlich über, ganz plötzlich. Die Minute vorher hat sie noch nichts davon gewußt, da wäre sie nicht gerne gegangen. Aber das ist jetzt oft so, nichts hat Bestand. Was eben noch galt, ist schon wieder ungültig. Noch niemals ist so oft und so überraschend der Gashahn aufgedreht worden wie in diesen Zeiten.
Plötzlich fühlt Sophie, wie hundemüde, wie ausgepumpt sie ist. Der Gedanke an ein paar Ferienwochen bei den Eltern in Neulohe taucht in ihr auf. Das wäre wirklich schön – ausschlafen, nichts tun, nichts trinken – und vor allem mal keine Kavaliere. Dazu sich den neidischen Schulgefährtinnen von ehemals als vollendete Dame aus der Stadt zeigen, gerade jetzt, wo die sich in der Ernte totrackern müssen! Und schließlich und endlich und am wichtigsten: Ganz in der Nähe von Neulohe liegt das Städtchen Meienburg. Dort steht ein festes Haus, von der kleinen Sophie bei seltenen Stadtfahrten mit grusligem Schauer angesehen, aber jetzt wohnt darin der Hans. Plötzlich faßt sie eine irrsinnige, ganz körperliche Sehnsucht nach dem Freunde – ihr ganzer Leib zittert nach ihm, ihr wird heiß und kalt. Sie muß zu ihm, sie muß in seiner Nähe leben, sie muß ihn wieder einmal spüren – wenigstens sehen muß sie ihn! Sicher wird es ihr gelingen, mit ihm in Verbindung zu kommen … Gefängniswärter sind auch bloß Männer …
Längst hat Sophie mit Silberputzen aufgehört – wozu soll sie noch etwas tun? Sie geht ja heute doch, macht Schluß in diesem Bums! Befriedigt lächelnd hört sie die gaumig heulende Stimme der Mathilde von vorne, dazwischen die ein bißchen scharfe, immer leicht gereizte der Gräfin, selten die spritrauhe, heisere des Herrn Quarkus. Die sollen nur kommen und ihr auch nur einen Vorwurf machen – sie wird auspacken, ach, wie wird sie auspacken! Denen soll gar nichts anderes übrigbleiben als sie auf die Straße zu setzen – aber nicht ohne ihren Lohn bis Ultimo! Und das Trampel, die Mathilde, kann sehen, wo ihr freier Tag bleibt – alle Arbeit wird sie allein tun dürfen, die –!
Nur ungern schickt die Gräfin Mutzbauer ihren Freund Quarkus in die Küche, die Sophie zu rufen. Sie wünscht ganz und gar keinen Streit mit ihrer Zofe, noch dazu vor den Ohren des Freundes. Es gab da vor einiger Zeit einen etwas seltsamen Einbruchsdiebstahl in der Wohnung. Den abhanden gekommenen Schmuck hatte Herr Quarkus zwar großzügig ersetzt, wollte sich aber damals schon durchaus mit der Polizei in Verbindung setzen. Es wäre nicht angenehm, wenn Sophie die Zusammenhänge dieses Diebstahls aufklärte. Noch peinlicher wäre allerdings, wenn sie von gewissen Schlafzimmerbesuchen erzählte.
Gräfin Mutzbauer war überzeugt, der Kavalier Quarkus verstand in diesem Punkte keinen Spaß, und wenn sie auch wußte, daß man einem verlorenen Liebhaber nicht nachweinen soll, denn der zu melkenden Ochsen gibt es überall mehr, als Vater Brehm sich hat träumen lassen – vor einer brutalen Tracht Prügel hatte sie ausgesprochen feige Angst.
Aber was war zu tun? Mathilde hatte vor Herrn Quarkus’ Ohren so ausführlich von der Benutzung nicht nur des Kleider-, nein, auch des Wäscheschrankes durch Herrin und Zofe berichtet (was der Herrin längst bekannt gewesen war), sie hatte auch einen so ausführlichen Bericht über eine „Orje““ erstattet, die sich während einer zweitägigen Abwesenheit der Herrin in den Mutzbauerschen Räumen abgespielt hatte, eine Orgie, in der nicht nur „fremde Louis und Nutten““, sondern auch sehr eigene Mutzbauerische Zigaretten, Liköre, Sekt und – hier sprang Herr Quarkus hoch und schrie heiser: „Au verflucht!““ – bei der leider auch das Mutzbauerische Bett eine Rolle spielte …
Die Gräfin hoffte wider allen Sinn und Verstand, Sophie werde vernünftig sein. Von ihrer Seite würde jedenfalls nichts geschehen, die Dinge auf die Spitze zu treiben.
Worauf die besagten Dinge in den ersten drei Minuten auf die Spitze gerieten, um von da in einen schwindelnden Abgrund zu stürzen, in dem es infernalisch stank! Der Viehhändler Emil Quarkus war bestimmt kein verwöhntes Knäblein, und gar manchen Dreck hatte er in seinem Leben verdauen müssen, auch war die Zeit nicht dazu angetan, Empfindlichkeiten zu züchten … was diese drei Weiber da aber sich minutenlang schrill an die Köpfe warfen, das stank so unaussprechlich, wie die Misthaufen all seiner zukünftigen Bauernhöfe nie stinken konnten!
Quarkus schrie auch und tobte auch. Er schmiß jede von den dreien eigenhändig hinaus und holte sie dann, aufheulend vor Wut, zur Vernehmung und Rechtfertigung wieder herein. Er stieß sie mit den Köpfen zusammen, und er riß die Krallenstarrenden wieder auseinander; er telefonierte nach der Polizei und machte das Telefonat umgehend wieder rückgängig; er revidierte die Koffer der Sophie und mußte schon wieder in das gräfliche Schlafzimmer stürzen, wo ein Totschlag im Gange zu sein schien; er nahm seinen Hut und marschierte mit dem verächtlichen Ausruf: „Weiber, verdammte, leckt mich alle am Arsch!““ aus der Wohnung, stieg die Treppe hinab und in sein Auto und ließ den Wagen doch sofort wieder halten, weil ihm eingefallen war, daß er diesem gemeinen Frauenzimmer „seinen Schmuck““ keinesfalls lassen würde …
Am Ende saß er völlig erschöpft und ausgepumpt, zu nichts mehr fähig, auf einer Couch. Noch mit geröteten Wangen und blitzenden Augen ging die Gräfin Mutzbauer auf und ab und mischte ihrem Emil einen Stärkungstrank.
„Solche gemeinen Frauenzimmer – alles natürlich erstunken und erlogen. Es ist gut, daß du sie gleich alle beide entlassen hast, Quarkus!““ (Er hatte nichts dergleichen getan.) „Du hast ganz recht, daß du die Polizei nicht gerufen hast““ (er hätte es liebend gern getan), „schließlich hätte deine Frau davon erfahren, und du weißt ja, wie die ist …““
Mathilde sitzt noch in der Küche auf ihrem Schließkorb; leise durch die Nase schnüffelnd, wartet sie auf die angerufene Paketfahrt, die den Korb holen soll. Dann wird sie mit der Untergrund zu ihrem Schwager fahren, der an der Warschauer Brücke wohnt. Die Schwester wird zwar nicht sehr begeistert von diesem Überfall sein, das Gehalt eines Straßenbahnschaffners reicht schon so nicht hin und her. Aber im Besitz eines stattlichen Devisenhäufchens, das ihr der durch ihr Kochen bestochene Quarkus nach und nach verschafft hat, fühlt sie sich gegen jeden schwesterlichen Unwillen gewappnet. Im Grunde kommt auch der Mathilde die Entlassung grade recht: nun hat sie wirklich Zeit, sich etwas um ihren unehelichen Sproß, den fünfzehnjährigen Hans-Günther, zu kümmern, von dem sie heute früh in der Zeitung gelesen hat, daß er als Anführer einer Revolte im Erziehungsheim der Stadt Berlin verhaftet worden ist. Nur darum war sie ja so wild geworden, daß Sophie ihr den freien Tag gestohlen hatte. Jetzt also hatte sie ihren freien Tag. Sie ist zufrieden.
Am zufriedensten aber ist Sophie Kowalewski. Die Autotaxe fährt mit ihr durch das immer stärker losbrechende Gewitter dem Christlichen Hospiz in der Krausenstraße zu. (In Herrenbegleitung hat Sophie nichts gegen das schmierigste Absteigehotel, als allein reisende junge Dame aber kennt sie nur das Christliche Hospiz.) Sie fährt in Sommerferien, ihre Koffer sind prall voll von den schönsten Dingen aus gräflichem Besitz, sie hat ihren Monatslohn bekommen und besitzt außerdem noch hinreichend Geld, und sie wird in Verbindung mit dem Hans kommen, ihn vielleicht sogar sehen. Sophie ist sehr zufrieden!
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