„Ernst?““ fragt das Mädchen Liesbeth. „Kein Quatsch mehr?““
„Kein Quatsch mehr! Völliger Ernst!““
Sie sieht ihn an. Sie wirkt unglaublich frisch gewaschen und sauber – trotz der Hitze –, es riecht gewissermaßen nach Sunlichtseife um sie. Vielleicht ist sie nicht mehr ganz so jung, wie er zuerst dachte, außerdem hat sie ein recht energisches Kinn.
Sie weiß jetzt, daß es wirklich Ernst ist. Sie sieht ihn an, dann auf das Geld in der Hand.
Gibt sie es mir jetzt wieder? überlegt er. Dann muß ich zu Peter und muß etwas tun. Aber was ich tun soll, weiß ich wirklich nicht. Ich habe zu nichts mehr Lust. Nein, sie soll mir sagen, was ich tun soll …
Sie hat das Geld glattgestrichen und in die Tasche gesteckt.
„So““, sagt sie, „nun kommen Sie erst mal mit mir. Nach Haus muß ich jetzt – und Sie sehen mir auch so aus, als könnten Sie ein Mittagessen in unserer Küche gebrauchen. Ganz grün und gelb sehen Sie aus. Die Köchin sagt nichts, und die gnädige Frau ist auch einverstanden. Aber zu denken, daß Ihre Freundin in Ihrem Sommerüberzieher auf Ihrer Bude sitzt, und ’ne knuffige Wirtin womöglich dazu, und vielleicht nichts im Magen – und so was steckt Hunden Geld in das Halsband und möchte gleich wieder von frischem anbändeln – Scheißkerle seid ihr Männer doch!““
Sie hat immer rascher geredet, den Hund gezerrt, ist eiliger gegangen, aber keinen Augenblick war sie unsicher, ob er auch mit ihr ging.
Und er ging wirklich mit, Wolfgang Pagel, Sohn eines nicht unbekannten Malers, Fahnenjunker a. D. und Spieler am Ende.
Mit dem zweiten Bestellgange um elf hatte der Postbote schon den Brief gebracht. Aber um diese Zeit war Frau Pagel noch unterwegs, machte Besorgungen. So hatte Minna ihn auf den Konsoltisch unter dem Spiegel im Vorplatz gelegt. Da lag er nun, ein grauer Umschlag, irgendein gehämmertes, ziemlich pompöses Büttenpapier, die Adresse mit einer recht ausgeschriebenen Hand steil und sehr groß aufgemalt, und jeder freie Raum vorne wie hinten war vollgeklebt mit den Tausenderwerten der Briefmarken, obwohl es nur ein Stadtbrief war.
Als Frau Pagel etwas verspätet und recht erhitzt aus der Stadt zurückkam, warf sie nur einen flüchtigen Blick auf den Brief. Ach, von Kusine Betty! dachte sie. Jetzt muß ich mich erst um mein Essen kümmern. Was die alte Klatsche will, höre ich noch früh genug.
Erst als sie bei Tisch saß, fiel ihr der Brief wieder ein. Sie schickte Minna danach, Minna, die wie stets hinter ihr in der Tür stand, während wie stets das Gedeck für Wolfgang am andern Tischende unbenützt dalag. „Von Frau von Anklam““, sagte sie über die Schulter zu Minna, indem sie den Brief aufriß.
„Gott, das wäre auch nicht so eilig gewesen, gnädige Frau, daß Ihr Essen deswegen kalt werden muß.““
Aber aus der Stille, der starren Haltung der gnädigen Frau, aus der Reglosigkeit, mit der sie auf den Brief starrte, erriet sie, daß es doch wichtig gewesen war.
Minna wartete lange, still, ohne Bewegung. Dann räusperte sie sich, schließlich sagte sie mahnend: „Das Essen wird kalt, gnädige Frau!““
„Wie –?!““ schrie Frau Pagel fast, fuhr herum und starrte Minna an, als sei die ihr völlig unbekannt. „Ach so …““, besann sie sich. „Es ist nur … Minna, Frau von Anklam schreibt es mir … Es ist nur – unser junger Herr heiratet heute!““
Und da war es vorbei. Der Kopf mit den weißen Haaren lag auf der Tischkante; der grade Rücken, den der Wille immer wieder gestrafft hatte, war krumm – die alte Frau weinte.
„Gott!““ sagte Minna. „Gott!““
Sie trat näher. Zwar fand sie in dieser Heirat gar nicht so viel Schlimmes, aber sie verstand doch Kränkung, Schmerz, Verlassenheit der Herrin. Vorsichtig legte sie ihr die verarbeitete Hand auf den Rücken und sagte: „Es braucht ja noch nicht wahr zu sein, gnädige Frau. Es ist noch lange nicht alles wahr gewesen, was Frau von Anklam erzählt hat.““
„Diesmal ist es wahr““, flüsterte Frau Pagel. „Irgend jemand hat das Aufgebot gelesen, als es aushing, und hat ihr davon erzählt. Heute um halb eins.““
Sie hob den Kopf, sah suchend die Wände entlang. Dann besann sie sich, und der Blick fand die Uhr, die sie suchte, an ihrem Arm. „Schon halb zwei!““ rief sie. „Und der Brief hat so lange draußen gelegen, ich hätte es rechtzeitig wissen können …““
Wahres Leid findet in allem Nahrung, selbst im Widersinnigen. Daß sie es nicht rechtzeitig gewußt hatte, daß sie nicht um halb eins hatte denken können: Jetzt werden sie getraut – das verstärkte Frau Pagels Kummer noch. Mit rinnenden Tränen, bebender Lippe saß sie da, sah ihre Minna an und sprach: „Jetzt brauchen wir kein Gedeck mehr aufzulegen, jetzt ist Wolf ganz fort, Minna. Ach, dieses schreckliche Frauenzimmer – und nun heißt sie Frau Pagel, ganz wie ich!““
Sie bedachte den Weg, den sie gegangen war unter diesem Namen; den stürmenden, eiligen Blütenweg zuerst. Dann die langen, die endlos langen Jahre an der Seite des gelähmten Mannes, der, immer fremder werdend, ruhig und freundlich Bilderchen pinselte, indes sie für ihn nach einer Gesundheit jagte, nach der er doch nichts mehr zu fragen schien. Schließlich erinnerte sie sich an das Erwachen, an den wieder Auferstandenen mit den weißen Schläfen, der, in die albernsten Geckereien verstrickt, ihr schändlich gestorben ins Haus getragen wurde …
Jeder Schritt dieses weiten Weges war so mühsam gegangen worden von ihr, kein Jahr ohne Sorge; Leid war ihr Bettgenoß gewesen, und ihr Schatten hieß Kummer. Aber darüber war sie eine Pagel geworden, aus den holden Täuschungen jungen Fleisches war die feste Frau erstanden, die nun und für ewig Frau Pagel hieß. Noch im Himmel würde sie eine Pagel sein; es war völlig unmöglich, daß Gott sie je etwas anderes sein ließ als eine Pagel. Aber all dies schwer Erkämpfte, diese Verwandlung, die ein schmerzliches Wachsen gewesen war in ihre Bestimmung hinein, das fiel diesem jungen Ding in den Schoß, als sei es nichts. Liederlich, wie sie zusammengekommen waren, banden sie sich aneinander. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch; da will ich auch begraben sein. Der Herr tue mir dies und das; der Tod muß mich und dich scheiden! – Ja, so hieß es, aber davon wußten sie nichts. Frau Pagel, das war kein Name, das war ein Schicksal! Sie aber machten einen Aushang, ließen halb eins hineinschreiben – und damit war es gut!
Minna sagte es auch grade, ihr zum Trost, aber es war richtig: „Es wird bloß Standesamt sein, gnädige Frau, keine Kirche.““
Die Gnädige richtete sich ein wenig auf, sie fragte eifriger: „Nicht wahr, Minna, Sie denken das auch? Wolfgang hat es sich nicht recht überlegt, er macht es nur, weil ihn dies Mädchen zwingt. Standesamt sieht er auch nicht für voll an. Den Kummer macht er mir nicht.““
„Es ist wohl““, erklärte die unbestechliche Minna, „weil Standesamt sein muß, Kirche nicht. Er wird mit Geld knapp sein, der junge Herr.““
„Ja““, sagte Frau Pagel und hörte nur, was ihr recht war. „Und was so zusammengelaufen ist, läuft auch ebenso leicht wieder auseinander.““
„Der junge Herr““, meinte Minna, „hat es immer zu leicht gehabt. Er hat keine Ahnung, wie ein armer Mensch Geld verdient. Erst haben Sie ihm alles leicht gemacht, gnädige Frau – und jetzt tut es das Mädchen. Manche Männer sind so – das ganze Leben brauchen sie ein Kindermädchen – und es ist komisch, sie finden auch immer eins.““
„Geld““, wiederholte die alte Frau. Sie werden kaum Geld haben. Ein junges Ding ist eitel, zieht sich gerne hübsch an – wenn wir ihr Geld gäben, Minna?““
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