„Ach, Herr Liebschner““, sagte der Reporter, der nicht zum ersten Male mit einem Gefangenen sprach, „ich bin Presse, vor mir brauchen Sie sich nicht zu genieren. Sie werden keine Nachteile haben, wenn Sie offen sprechen. Wir werden ein Auge auf Sie haben. Also was war das heute früh mit dem Brot?““
„Ich bitte doch sehr!““ rief der Direktor, bleich vor Wut. „Das grenzt an Aufwiegelei …““
„Machen Sie sich doch nicht lächerlich!““ bellte Herr Kastner. „Wenn ich den Mann auffordere, die Wahrheit zu sagen, heißt das Aufwiegeln? Reden Sie ruhig frei von der Leber weg – ich bin Kastner vom Sozialdemokratischen Pressekonzern, Sie können mir immer schreiben …““
Doch der Gefangene hatte sich schon entschieden. „Manche müssen immer meckern““, sagte er und sah dem Reporter treu ins Auge. „Das Brot ist, wie es ist, und ich mag’s essen. Die hier drinnen am lautesten schreien, schieben draußen meistens Kohldampf und haben keine heile Hose auf dem Hintern.““
„So““, sagte der Reporter Kastner mit gerunzelter Braue, sichtlich unzufrieden, indes der Direktor leichter atmete. „So! – Wegen was sind Sie denn bestraft?““
„Hochstapelei““, antwortete Herr Liebschner. „Und dann sollen ja jetzt Erntekommandos rausgehen, Tabak und Fleisch, soviel man will …““
„Danke!““ sagte der Reporter kurz, und zum Direktor gewandt: „Gehen wir weiter? Ich hätte gerne noch eine Zelle gesehen. Man weiß auch, was man vom Geschwätz der Kalfaktoren zu halten hat, die haben alle Angst um ihren Posten. Und dann Hochstapelei – Hochstapler und Zuhälter, das ist das unglaubwürdigste Gesindel von der Welt!““
„Zuerst schien Ihnen an der Aussage dieses Hochstaplers aber viel zu liegen, Herr Kastner.““ – Der Direktor lächelte hinter seinem blonden Bart.
Der Reporter sah und hörte nicht. „Und dann Erntekommandos! Den Großagrariern ihre Dreckarbeit machen, für die sich sogar die Pollacken zu schade sind! Und für Schandlöhne! Ist das eine Erfindung von Ihnen?““
„Nicht doch““, sagte der Direktor freundlich. „Nicht doch. Eine Verfügung Ihres Parteigenossen im Preußischen Justizministerium, Herr Kastner …““
„Frau Thumann““, sagte Petra in der Küche ihrer Wirtin, hatte den schäbigen Sommerpaletot fest von oben bis unten zugeknöpft und kümmerte sich gar nicht um ihr Zimmervisavis, die rassige, aber versoffene Ida vom Alex, die am Küchentisch saß und schöne, glasierte Schnecken in Milchkaffee tauchte – „Frau Thumann, haben Sie nicht ein bißchen was zu tun für mich?““
„Jotte doch, Mächen!““ ächzte die Pottmadamm am Spülstein. „Wat meenst du nu wieder mit wat zu tun? Willste uff de Uhr kieken, ob er kommt, oder haste Kohldampf?““
„Allet beedet““, sagte die Ida mit ihrer tiefen, vom Schnaps kratzigen Stimme und zog schlürfend über ein Stück Zucker im Munde ihren Kaffee.
„De jrünen Heringe ha ’ck schon ausjenommen und jeschuppt, und den Kartoffelsalat machste doch nicht, wie Willem ihn will – und sonst?““
Sie sah sich um, aber es fiel ihr nichts ein.
„Da ha ’ck nu jespannt und jejachtert, dat ick noch rechtzeitig zu de piekfeine Trauung unter de Kirchentür stehe, und nu is es ein Uhr vierzig, und wat de Braut is, die läuft noch in ’nem Herrenpaletot mit nackje Beene. Imma wird man belämmert!““
Petra setzte sich auf einen Stuhl. Ihr war wirklich ein wenig sehr schwach im Magen, ein ziehendes Gefühl mit einer leisen Andeutung von kommendem Schmerz, Schwäche in den Knien und immer wieder ein Schweißausbruch, der nicht allein von der stickenden Schwüle kommen konnte. Aber ihre Stimmung war trotzdem recht gut. Eine große, glücklich machende Gewißheit war in ihr. Sie konnte die beiden ruhig reden lassen, es gab den Stolz nicht mehr und nicht mehr die Scham von früher. Sie wußte, wohin der Weg ging. Daß er ans Ziel führte, darauf kam es an, nicht darauf, daß er beschwerlich war.
„Setzen Se sich bloß langsam uff den Stuhl nieda, meine Dame!““ höhnte die rassige Ida wieder. „Sonst hält er nich, bis der Bräutjam kommt Sie holen zur Trauung.““
„Mach es nich zu schlimm mit ihr in meine Küche, Ida““, mahnte die Pottmadamm am Spülstein. „Bislang hat er ja noch imma allens bezahlt, und mit zahlende Jäste soll man lieblich sind.““
„Eenmal is es aba alle, Thumann““, sagte die Ida weise. „Ick hab en Blick for die Männers, ick weeß, wenn die Marie dünne wird und er möchte rücken – ihrer is heute jerückt.““
„Saren Se det bloß nich, Ida!““ klagte Frau Thumann weinerlich. „Wat soll mir denn det Mächen mit nischt als en Paletot und nackje Beene?! – O Jott!““ schrie sie laut und warf mit einem Topf, daß es schepperte, „mir jeht doch allens schief, ick kann ihr womöchlich noch ein Kleid koofen, bloß, det ick ihr loswerde!““
„Ein Kleed koofen!““ sagte die Ida verächtlich. „Zu dumm kleid’t ooch nich hübsch, Thumann! Da saren Se dem nächsten Sipo so und so – et wohnt ja jleich eener in’t Vorderhaus – und vastehnse und Betrug, und ab mit ihr zur Wache und uff den Alex. Die ziehen Ihnen da schon wat an, Fräulein, wat Sie denken, blauer Husar und Kopftuch, vastehn Se?!““
„Mir müssen Sie nicht angst machen““, sagte Petra friedlich und ein wenig schwach. „Sie hat wohl auch schon einmal einer sitzenlassen.““ Sie hatte es nicht sagen wollen, aber wes das Herz voll ist, des geht der Mund über – und so hatte sie es gesagt!
Der Ida blieb die Luft fort, als habe sie einer derb vor die Brust gestoßen.
„Den haste wech, Mächen!““ kicherte die Thumann.
„Eener, Fräulein?!““ sagte da die Ida mit erhobener Stimme. „Eener – saren Se?! Hundert, sollten Se saren! Da reichen keene hundert Male, det ick mir Eisbeene und dicke Knie stehe, und der Seejer uff de Normaluhr jeht und jeht, bis ick dußlijet Aas endlich merke: mir hat wieda eena vasetzt! Aber““, ging sie aus den wehmütigen Erinnerungen zum Angriff über, „desderwejen brauch mir so eene, die nich mal am Hochzeitstag was uff ’en Leib zu ziehen hat, det noch lange nich vorzuhalten! Eene, die mir nur mit Jieroojen die Schnecken ins Maul kiekt und de Kaffeeschlucker zählt. So eene wie …““
„Feste, feste!““ freute sich die Thumann.
„Und überhaupt! Is det denn ’ne Sache für ’n anständijet Mächen, det se in so ’ne bedrängte Laje hochnäsig in ’ne fremde Küche kommt und fracht wie Jräfin Hochkotz: Hamm Se wat for mir zu tun?! Wer nischt hat, muß betteln jehn, det hat mein Vata mir schon mit ’em Scheit auf ’en Buckel jeschrieben, und hätten Se jesacht: ›Ida, ick schiebe Kohldampf, jib mir ’ne Schnecke‹, du hättst längst eene jehabt! Und überhaupt, Frau Thumann! Ick zahle Sie einen Doller täglich für Ihren Wanzenstall und nich mal Nachtlicht uff de Treppe, wo die Herren imma üba meckern – da hamm Se jar nischt zu lachen und zu schreien: ›Den haste wech, Mächen!‹ Da hamm Se mir jefälligst in Schutz zu nehmen, und wenn so eene keß wird, die janz for umsonst mit ihrem Louis schläft, zum Vajniejen, und de Thumann kann ja sehn, wo se de Pinke herkriegt, wir arbeeten nich, wir jehn doch nich uff den Strich und schaffen nich an – dafor sind wir doch zu fein –, nee, Thumann, ich muß mir doch sehr über Sie wundern, und wenn Se det freche Aas, det mir vorwirft, det ick nich imma Jlück mit die Herren habe, wenn Se die nich uff de Stelle rausschmeißen – denn zieh ick!““
Die rassige Ida stand zornrot da, eine Schnecke hatte sie noch in der Hand, hochrot war sie, und immer röter wurde sie noch, je mehr ihr klar wurde, wie schwer sie beleidigt worden war. Die Thumannsche und Petra sahen ganz fassungslos auf diesen Sturm, der entstanden war, kein Mensch wußte, woher und warum. (Und die rassige Ida, hätte sie nur nachdenken können, war sicher über den Schluß ihrer Rede genauso überrascht wie die beiden andern.)
Читать дальше