„Darf ich es ihm sagen?“, fragte Knut Dietrich um Erlaubnis.
Dietrich nickte zögernd, also begann Knut zu erzählen: „Diese Strafe war symbolisch gemeint: Wenn du jetzt nicht sprichst, sollst du nie wieder sprechen. Er wollte den Wachen nämlich nicht verraten, wo sich sein Vater versteckt hielt, nachdem dieser versucht hatte, ein schweineteueres Medikament zu stehlen, weil Dietrichs Mutter schwer krank war. Sie fanden seinen Vater aber auch ohne Dietrichs Hilfe und als dieser sich weigerte, ins Gefängnis zu gehen, brachten sie ihn um. Dietrichs Mutter starb kurz darauf ebenfalls, da sie das Medikament nicht bekommen hatte.
Als der Herr der Diebe zufällig nach einer seiner Missionen an Dietrichs Haus vorbeikam, wo die Eingangstür offen stand, konnte er ein Wimmern vernehmen, und stellte fest, dass es aus dem Haus kam. Er sah nach und fand Dietrich mit Tränen in den Augen, kniend vor dem Bett, in dem seine tote Mutter lag. Er nahm Dietrich auf und bezahlte sogar die Beerdigung seiner Eltern. Das ist jetzt fast vier Jahre her.“
„Aber wenn ihr ihn in diesem Zustand gefunden habt, woher wisst ihr dann seinen Namen und seine Geschichte?“, fragte ich interessiert nach.
„Dietrich malt und zeichnet sehr gut und gerne. So konnte er es uns, zusammen mit ein wenig Raten, klarmachen. Schreiben hat er aber, so wie die meisten von uns, nie gelernt. Darum wissen wir seinen echten Namen bis heute nicht und werden ihn wohl auch nie erfahren. Dietrich nannten wir ihn, weil sein Vater Schlosser war und er darum ausgezeichnet mit dem Dietrich umgehen kann“, erklärte mir Knut stolz. „Willst du mal sehen, was Dietrich so drauf hat? Er kann echt super malen!“
„Klar!“, rief ich.
Dietrich holte Papier und Bleistift aus seiner Truhe und fing an zu zeichnen. Es dauerte nicht lange, da konnte ich auch schon erkennen, was es werden sollte. Das Bild war ihm echt gut gelungen. Wirklich jeder hätte mich darauf wiedererkennen können. Dann hielt er es mir hin.
„Für mich?“, fragte ich vorsichtig.
Dietrich nickte. Ich freute mich wirklich sehr über das tolle Bild von mir und legte es in meine Truhe. Dann wurde der Herr der Diebe auf uns aufmerksam. Er kam zu uns herüber und ich hielt ihm den Geldbeutel mit dem Rest des Geldes darin hin.
Er winkte ab. „Behalte den Rest. Du solltest jetzt besser schlafen. Morgen fangen wir nämlich mit deinem Training an.“ Ich befolgte, was er mir riet. Die meisten anderen gingen jetzt ebenfalls zu Bett, sowie auch Raven, der, wie ich nun feststellte, das Bett unter mir gehörte.
Lange lag ich wach und drehte mich von einer Seite auf die andere. Es war schon komisch. Ich hatte nächtelang in keinem anständigen Bett mehr geschlafen und jetzt, wo ich in einem lag, konnte ich einfach nicht einschlafen. Das machte wohl die Aufregung auf den morgigen Tag.
„Kannst du nicht schlafen?“, flüsterte Raven.
„Oh, tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe“, entschuldigte ich mich bei ihr.
„Schon gut, ich habe noch nicht geschlafen“, konnte sie mich beruhigen. „Ich kann auch öfters nicht einschlafen. Meine Gedanken lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Ach und wundere dich nicht, wenn ich morgens recht viel fluche. Das ist normal bei mir.“ Ich lächelte, was sie jedoch nicht sehen konnte.
„Was beschäftigt dich denn, wenn ich fragen darf?“, interessierte es mich. „Vielleicht hilft es ja, wenn du mit jemandem darüber sprichst.“
„Nun ja, mag sein.“ Sie zögerte kurz, bevor sie weiter sprach. „...Um ehrlich zu sein, seit du dich mir vorgestellt hast, brennt mir eine Frage förmlich auf der Zunge, die ich dir vor den anderen aber nicht stellen konnte.“
„Ich denke, die anderen schlafen alle. Wir sind also so gut wie allein. Nur zu, frag ruhig“, gab ich ihr die Erlaubnis.
„Aber antworte mir bitte nur dann, wenn du auch die Wahrheit sprichst“, bat sie mich und begann anschließend zu flüstern: „Wie heißt du wirklich?“ Noch bevor ich mit „Leander“ antworten konnte, wandte sie auch schon ein: „Und sag jetzt bloß nicht Leander . Ich weiß, du heißt nicht so, denn das wäre ein zu großer Zufall. Aber warum hast du dich dann Leander genannt? Ich meine, du kannst ja nicht wissen, was dieser Name bedeutet...“
„Ja, es stimmt,“, gab ich zu, „ich heiße erst seit heute so. Der Herr der Diebe gab mir diesen Namen. Meinen echten Namen weiß ich nicht mehr. Vor etwa einer Woche wachte ich verletzt an einem Flussufer auf, ohne irgendeine Erinnerung an mein vorheriges Leben, schleppte mich in die nächste Stadt und...“
„Und das soll ich dir glauben?“, unterbrach sie mich mit einem seltsamen Ton in ihrer Stimme.
Obwohl ich wegen ihrer anmaßenden Reaktion auf meine ehrliche Antwort entsetzt war, bestätigte ich diese nur mit einen kurzen Satz: „Der Herr der Diebe glaubt mir.“
Ich konnte hören, wie sie einatmete. „Du hast Recht. Tut mir leid, dass ich so misstrauisch bin. Ich weiß, der Herr der Diebe besitzt eine ausgezeichnete Menschenkenntnis - und wenn ich dir schon nicht traue, dann wenigstens ihm. ...Eigentlich, wenn ich es mir so recht überlege, erklärt das sogar alles - auch warum er gerade dich so genannt hat. Seit deiner Ankunft benimmt er sich nämlich wieder normal, ist mir aufgefallen. Ach was, Alessandro ist sogar richtig gut drauf, so wie wenn er einen besonders komplexen Auftrag mit seiner Raffinesse gemeistert hat! Deswegen verhält sich Volker dir gegenüber auch so merkwürdig“, überlegte sie laut.
„Warum? Wie benahm sich der Herr der Diebe denn vor meiner Ankunft?“, interessierte es mich.
„Es begann vor etwa einem Monat. Seit Alessandro von seinem Auftrag damals zurückkam, wirkte er so nachdenklich und geistesabwesend. Sixtus erzählte mir, das wäre vor etwa 14 Jahren schon einmal vorgekommen. Damals, so glaubt man, hätte ihn seine Freundin verlassen. Aber man ist sich nicht richtig sicher, ob er wirklich eine Freundin hatte, da sie keiner von uns je zu Gesicht bekommen hat und weil Alessandro auch nie ein Wort darüber verlor, wohin er damals immer stundenlang verschwunden war, was die Sache noch geheimnisvoller macht... Egal. Sixtus glaubt jedenfalls, er hätte seine Freundin vor diesem Monat wieder getroffen und benähme sich deswegen so seltsam. Darüber lässt sich streiten. Jedenfalls ist das mit Alessandro seit etwa letzter Woche noch schlimmer geworden. Er hat sich manchmal ganz allein in die Schatzkammer zurückgezogen, sperrte sogar seinen besten Freund Odo aus und verharrte dort stundenlang. – Bis du aufgetaucht bist. Und Plötzlich ist er wieder wie früher, so als hätte dieser Monat gar nicht existiert...“, stellte Raven fest.
„Trotzdem glaube ich nicht, dass das etwas mit mir zu tun hat. Immerhin hatte er, bevor er mich traf, noch diesen Smaragd gestohlen und du sagtest doch gerade eben, er wäre so gut drauf, wie wenn er einen großen Auftrag gemeistert hat“, fand ich.
„Er hat ihn dir gezeigt?“, fragte Raven erstaunt, wartete dann aber keine Antwort von mir ab. „Eigentlich war jeder hier dagegen, dass er in seinem Zustand einen so gefährlichen Auftrag ausführt. Tassilo hatte ihm sogar angeboten, er würde es für ihn erledigen. Aber Alessandro war strikt dagegen, sich den Auftrag abnehmen zu lassen. Er meinte, das lenke ihn ab.“
„Vielleicht wollte er den Auftrag aber auch nur nicht hergeben, weil er wusste, er würde dadurch seine Freundin wieder treffen? Vielleicht hat er sich ja wieder mit ihr versöhnt, kurz bevor er mich getroffen hat und ist deswegen so gut drauf? ...Wenn es diese Freundin überhaupt gibt... Was auch immer, vieles ist möglich... Eigentlich geht mich das Ganze ja auch gar nichts an!“, fiel mir zu meinem Entsetzen auf.
„Richtig, es ist möglich... Aber fest steht, er hat dich Leander genannt“, wägte Raven ab.
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