„Ich habe keinen Schock erlitten“, widersprach Sarah und kam wieder auf die Füße, „Dr. Sheramy hatte mir doch gesagt, dass sich Mama nicht mehr erholen würde.“
„Aber du bist so bleich!“, rief Selina. „Wirst du vielleicht krank?“
„Ich war noch nie krank“, empörte sich Sarah, allerdings mit schwankender Stimme, und hielt sich rasch am Türrahmen fest.
„Wird dir schon wieder schwach?“, fragte Lavinia besorgt.
Lady Glanby betrachtete sich ihre Nichte genauer. „Sarah, wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?“
Sarah riss die Augen auf. „Warum? Ich fürchte, ich weiß es gar nicht genau. Ich glaube, gestern. Oder?“
„Kind, warum isst du denn nicht vernünftig?“, wollte der Viscount wissen.
Sarah spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen – sollte das auch noch ein Vorwurf sein?
„Ich habe das gegessen, was Mama verschmäht hat. Die Hammelbrühe.“
„Iih!“, kommentierte Lavinia.
„Und sonst?“
„Sonst… ich weiß nicht, was noch im Haus ist. Etwas Brot vielleicht. Ich muss ohnehin zurück, dann werde ich nachsehen. Ich muss ja auch den Haushalt auflösen.“
„Lass nur, Sarah, das hat doch Zeit“, mischte sich der Viscount wieder ein.
„Ich beschäftige mich gerne etwas. Außerdem dachte ich doch ohnehin nur an die Kleider und einige Bücher. Alles andere gehört doch wohl zum Besitz, nicht wahr?“
„Was meinst du mit „Alles andere, Sarah?“, fragte Selina.
„Die Möbel, das Kochgeschirr, das Porzellan, die Bettwäsche – oder?“
Das traf zwar tatsächlich zu, aber es klang doch sehr hart; Onkel und Tante wechselten einen peinlich berührten Blick. Sarah wandte sich zur Tür. „Ich wollte euch nicht die Stimmung verderben; ich glaube, ich gehe jetzt besser. Ich wünsche noch einen schönen Abend.“
Damit eilte sie in Halle und so schnell zur Eingangstür, dass Grimes es nicht einmal schaffte, ihr rechtzeitig die Tür aufzureißen. Bessie fand sich unsanft von den Blumen neben der Tür entfernt und zur Allee gedreht, so dass sie besonders lustlos antrabte. Dennoch war Sarah bereits einigermaßen außer Hörweite, als sich ihre Verwandten aufgerafft hatten und sich nun im Portal drängten und ratlos die Auffahrt entlang spähten.
Sie versuchte, sich auf den Feldweg und auf Bessies üble Laune zu konzentrieren und nicht auf das hohle Gefühl in ihrem Inneren, und so gelang es ihr tatsächlich, bis zum Dower House zu gelangen, abzusteigen, Bessie vor einem Stück saftigen Rasens anzubinden, sie flüchtig abzureiben (ins Schwitzen war die ältliche Stute unterwegs auch kaum geraten) und ins Haus zu treten.
Dort durchsuchte sie hastig die Küche und fand noch einen Kanten steinhartes Brot. War das der Rest von dem Laib, den sie Anfang letzter Woche gebacken hatte? Ja, sie hatte das Brot oben sternförmig eingeschnitten, und davon sah man noch eine Spur.
Sie holte sich einen Becher Wasser am Brunnen hinter der kleinen Spülküche und setzte sich damit und mit dem versteinerten Brot und einem Messer an den Küchentisch. Immerhin gelang es ihr, ein kleines Stückchen Brot abzuschneiden oder besser zu reißen und es vorsichtig zu kauen. Mal stelle sich vor, sie bisse sich noch einen Zahn aus! Dann könnte sie sich wirklich nur noch als Küchenmagd verdingen…
Das Kauen war anstrengend, aber schließlich war der Bissen Brot doch einigermaßen schluckbar. Sie schluckte also und spülte mit dem Wasser nach.
Satt war sie damit nicht.
Was wäre denn, wenn sie ein Stück Brot in Wasser legte, um es aufzuweichen? Sie probierte es aus und beschloss, das Brot eine Zeitlang liegen zu lassen. In der Vorratskammer musste es doch noch Äpfel geben…
Ja, exakt zwei - eher Misstrauen erweckende – Exemplare. Sie schnitt den weich gewordenen Teil ab, untersuchte den Rest auf unerwünschte Bewohner und biss schließlich vorsichtig ab. Mehlig, nun gut, aber wurmfrei und nicht verfault. Ihr Magen beruhigte sich zusehends.
Aber was sollte sie in den nächsten Tagen essen? Morgen hatte sie vielleicht noch einen Rest des nassen Brots, aber davon abgesehen war die Speisekammer so leer wie der Vorratsraum. Nicht einmal verlockende Krümel von irgendetwas fanden sich noch – und am Haken für den Schinken gab es nur noch ein Restchen Schnur.
Aber zu Mamas Lebzeiten war doch auch genug zu essen dagewesen? Sarah setzte sich ins Wohnzimmer vor den kalten Kamin und überlegte.
Woher hatte Mama diese kleine Rente bezogen? Von Onkel Victor? Aus einem Rest des Vermögens von Papa? Aber hatte Papa als jüngerer Bruder überhaupt Vermögen besessen? Und wenn ja, wo war es jetzt? War das Einkommen mit Mamas Tod erloschen?
Unsinn, tadelte sie sich selbst. Sogar wenn das Einkommen nun wegfiel: Mama war heute Nacht gestorben und ganz plötzlich war die Speisekammer leer? Das hörte sich eher nach einem bösen Märchen an…
Gut, während Mamas Krankheit hatte sie sich nicht allzu sehr um Einkäufe gekümmert, denn Mama wollte ja ohnehin nichts essen und die Sorge war Sarah selbst auf den Magen geschlagen.
Wenn sie aber nicht eingekauft hatte, musste doch irgendwo noch Geld sein? Wo bewahrte Mama das Geld auf, das sie einmal im Monat in der Stadt von der Bank geholt hatte? Von dem sie Sarah Geld für die Einkäufe zu geben pflegte? Knapp bemessen natürlich, damit man bis zum Monatsende auch hinreichte?
Sarah sah sich suchend um. Das Dower House war eher ein Häuschen, man merkte, dass die Familie Linton nicht mit großen Reichtümern gesegnet war; sie besaß ein kleines Herrenhaus und ein entsprechend winziges Witwenhaus, in dem der jüngere Sohn mit Frau und Tochter gelebt hatte, seitdem die Dowager Viscountess – als Sarah noch nicht laufen konnte - verstorben war. Im Erdgeschoss gab es das Wohnzimmer, die Küche mit Spülküche und einen Abstell- und Garderobenraum, im Obergeschoss drei Schlafzimmer und eine Badekammer mit einer Wanne, die man schon lange nicht mehr benutzt hatte, da es am Personal fehlte, um sie mit heißem Wasser zu füllen. Im Dachgeschoss standen zwei Dienstbodenräume leer – und hinter dem Haus gab es einen Verschlag mit einem Abort. Nicht gerade neuzeitlich, dachte Sarah, sogar im Herrenhaus hatten sie schon eine Einrichtung mit Wasserspülung. Dort dachten sie auch schon über Gasbeleuchtung nach und hier gab es insgesamt fünf Petroleumlampen und noch einige Kerzen.
Im Wohnzimmer durchsuchte sie rasch den Sekretär, wo sie Mamas Testament entdeckte. Sie sollte es wohl dem Onkel bringen. Nun, morgen vielleicht. Sie war müde, Bessie war müde.
Einige alte Briefe, auch welche von Papa an Mama, mit einem blauen Seidenband umwickelt, das ihr unter den Händen zerfiel. Diese Briefe würde sie behalten, denn ihre Eltern hatten eine Liebesheirat geschlossen und das war doch wohl der Erinnerung wert? Auch wenn sie im Moment nicht die Kraft hatte, sie zu lesen.
Ansonsten fand sie nur noch Papas Siegelring, einige Blatt unbenutztes Papier und einen Bogen, auf dem Mama – oder Papa? – Notizen zu einer Metamorphose des Ovid gemacht hatte. Das würde sie auch als Erinnerung aufbewahren… Aber Geld fand sie nicht, nicht in den kleinen intarsierten Schublädchen (zumeist leer), nicht in den Brieffächern, nicht in den großen Fächern. Sie beschäftigte sich einige Minuten lang damit, die spärlichen Habseligkeiten ihrer Mutter gefällig zu arrangieren und im Sekretär Staub zu wischen, dann sah sie sich weiter um. Zwei halbhohe Regale neben dem – natürlich kalten – Kamin.
Links Literatur in lateinischer und griechischer Sprache, rechts die eigenen Klassiker, Chaucer, Marlowe, Shakespeare…. ein intarsiertes Kästchen, leider leer.
In der Küche? Vielleicht in einem Gefäß in der Vorratskammer?
Nein, dort konnte sie auch über die leeren Bretter wischen und die ebenso leeren Gefäße spülen und abtrocknen.
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