Wenn ihr genau hinschaut, entdeckt ihr da auch noch die Systematik und die kommunikativen Verbindungen. Nachbarschaft auf der Liste und in den Blöcken heißt gewöhnlich, – sie haben zusammengearbeitet. Die Handvoll Kommandeure natürlich ausgenommen, die wirkten übergreifend.
Genaueres für den deutschen Teil kann euch dann sicher der Oberst der Abwehr, Herbert Gros, berichten. Der lebt meines Wissens noch in Berlin. Er war unter dem Decknamen Gärtner der wichtigste Mann auf eurer Seite und der Partner von Igor Antonow bei der finalen Operation Lichtstrahl, – mit dem Mauerfall am neunten November.
Oberst Gros gehörte übrigens – als Militär in Uniform – auch zu unserer Delegation, die Ende Juli neunundachtzig, mit der ungarischen Abwehr, den optimalen Abschnitt für die Grenzöffnung beim Paneuropäischen-Picknick aussuchte, – damit nichts schief geht. Auch Igor Antonow und ich waren als Zivilisten dabei.
Über den Besuch der deutschen Offiziere, zu diesem Zeitpunkt, an diesem Ort, wundert sich das offizielle Ungarn heute noch.«
»Strategisch. – Erstaunlich, auch das zu hören, – aber was hattet ihr dann in der DDR strategisch geplant und was gelang euch umzusetzen?«, witterte Nussbaum Schlüssel-Informationen.
»Alles stand im Herbst unter Zeitdruck. Wir hatten mit der Grenzöffnung in Ungarn sowie der Abreise der Botschaftsflüchtlinge aus Prag und Warschau die Sache erfolgreich beschleunigt. Die Anweisung an die Militärführung sowie den KGB, sich in die Verhältnisse in den Bruderländern und besonders der DDR nicht mehr einzumischen, war dabei in unserem strategischen Sinne entscheidend.
Einzige Ausnahme, die sich unbeherrschbar zeigte, war Rumänien: Die schon erwähnte, improvisierte Operation Karpaten-Licht gegen den paranoiden, durchdrehenden rumänischen Kondukator Ceausescu, – das war ein nicht friedlich zu beherrschender Sonderfall und ist eine bedauerliche, blutige Ausnahme. Das Problem mit diesem postkommunistischen Neurotiker begann aber schon vor dem Kreml-Flug.«
»Ceausescu. – Was war mit Ceausescu, der ja mit seinem monarchistisch angehauchten, totalitären System, extrem aus der Art schlug?«, lockte Nussbaum, weil er an Nikolai’s Tonlage fühlte, dass es ihm nicht behagte, über das Thema zu sprechen, denn er winkte auch ab, – doch fing er sich und wurde hart in den Gesichtszügen.
»Der Anfang war harmlos, – so schien es. Wir hatten, aufgrund von Warnungen, zum offiziellen Staatsbesuch Gorbatschows siebenundachtzig in Bukarest, eine eigene gepanzerte Limousine mitgebracht. Das war unter Freunden unüblich und dies verärgerte den Kondukator – den gelernten Schuster – der ja ein hinterhältiger Feind der Perestroika von Anfang an war, heftig. Da war aber sein geschustertes Königreich noch halbwegs in Ordnung, das heißt zahlungsfähig. Er war beleidigt, – vor allem wohl auch, weil er ahnte, dass wir etwas ahnten.
Als Ceausescu dann, abgewirtschaftet und überschuldet, im September des Wendejahres, als Bettler in Moskau antrat und ihm der Parteichef die bisherigen Vergünstigungen bei den Rohstofflieferungen verweigerte, rastete der Kondukator in dem Vier-Augen-Gespräch aus, brüllte rum, bezichtigte Gorbatschow des Verrats an der kommunistischen Idee und warf mit einer Champagner-Flasche, sodass sich die Sicherheitsoffiziere auf dem Sprung befanden.
Als er rauschend abreiste, wurde er von uns observiert und fluchte, dass er Gorbatschow schon damals, beim Staatsbesuch, hätte abknallen lassen sollen. Das machte uns sicher, dass damals in Bukarest wirklich ein Anschlag geplant war, um die stalinistisch-kommunistische Weltbewegung zu retten.
Unsere Führung kommentierte diese Nachricht mit der Prognose, dass es wohl ein schlimmes Ende nehmen werde mit Ceaucescu. Die Abwehr in Rumänien, die darüber informiert wurde, verstand das dann wohl als Aufforderung, – muss ich mit Bedauern feststellen.«
Bruder Nikolai bekreuzigte sich bei diesem Resümee mehrfach.
»Den Rest kennt ihr wahrscheinlich. Unsere Leute fädelten mit der starken, aber unterdrückten Minderheit der Ungarn in Rumänien, den Aufstand in Timisoare und Bukarest ein. Am Weihnachtstag wurden der Kondukator und seine Königin von den eigenen Leuten, die ihre Spuren verwischen wollten, liquidiert.
So war das, - alles hängt miteinander zusammen, – die große Geschichte und die kleinen Geschichten, das Schicksal großer Männer und kleiner Leute –, um mit Tolstoi zu sprechen.
Aber verzeih, ich schweife ab Samuel, von deiner Frage nach den Vorgängen bei euch. Entschuldige bitte, aber es war wichtig, weil es der einzige Fall war, der blutig endete, – der in Rumänien.
Berlin, Ostdeutschland, stand nach den wilden, massiven Ausreisen über Ungarn, Prag und Warschau sowie den anhaltenden, sich zuspitzenden, aber friedlichen Montags-Demonstrationen in Leipzig – wo wir ebenfalls die gewaltbereiten Stalinisten ausbremsen mussten – von Woche zu Woche unter höherem Druck. Auch dort war unser Ziel nicht frontal anzugehen, sondern nur konspirativ, – über die Abwehr und unsere Einfluss-Agenten in den fachlichen Eliten des Landes.
Die sechs prominenten Leipziger – unter ihnen dieser berühmte Dirigent – wurden durch einen in der Gruppe, der unser Mann war, zum Aufruf Keine Gewalt geführt, der am Nachmittag über die Lautsprecher der Stadt verlesen wurde.
Die Demonstranten, die bis dahin einen blutigen Rundumschlag nach chinesischem Muster befürchten mussten, – denn das wankende Regime hatte sich massiv darauf vorbereitet, schöpften wieder Hoffnung und verhielten sich absolut friedlich, – und das trotz der sichtbar sprungbereiten, bis an die Zähne bewaffneten Einsatzkräfte. Damit war an diesem neuralgischen Punkt die Luft raus für die Stalinisten, – der blutige Platz des Himmlischen Friedens, der bis dahin drohte, war für Leipzig dann ausgeschlossen.
Ein weiterer Höhepunkt der Ouvertüre, der Lichtstrahl Operation, im eigentlichen Brennpunkt, in der Hauptstadt des Kalten Krieges Berlin, von der wir witzelten, dass es dort mal - nach dem Krieg – mehr Agenten als Fahrräder gab, war die Groß-Kundgebung auf dem Alexanderplatz am vierten November.
Igor Antonow, der damals wegen der Explosivität der Lage im Aufklärungszentrum Karlshorst war, übermittelte uns eine zivile und uniformierte Bereitschaft in allen Behörden Ost-Berlins. Mit starken Kampf-Verbänden der Bereitschaftspolizei, die in der Nacht zuvor in die Bauten der Ministerien, in der Nähe des Brandenburger Tores und unter den Linden eingesickert waren. Sie sollten bereitstehen, falls sich die Masse der Demonstranten nach der Kundgebung in Richtung Mauer bewegen würde. Nach unseren Informationen hoffte die Stalinisten-Fraktion sehr darauf. Sie hätte mit dem Ausnahmezustand, einer allgemeinen Mobilmachung und der Internierung so genannter Feindlich-Negativen-Kräfte reagiert.
Die Internierungsliste der Staatssicherheit umfasste in der DDR über hunderttausend Bürger und an der Umsetzung dieses Planes – bei Ausrufung des Ausnahmezustandes – hätte sie Gorbatschow erst mal nicht hindern können. Das Kind wäre damit in den Brunnen gefallen, in Berlin, – mit ihm die Europäische Perestroika. Zwanzig weitere Jahre Kalter Krieg oder das Ende der Zivilisation in einem dritten Weltkrieg wären die absehbaren Folgen gewesen!«
»Unheil: Nicht auszudenken, was dann an Unheil geschehen wäre!«, warf Nussbaum ein.
»Ja, auf dieser Liste der Feindlich-Negativen Kräfte stand auch ich«, erinnerte sich Oie, »und die Informationen von Igor, der von den Internierungs-Vorbereitungen wusste, bereiteten mich, für den Fall der Fälle, mental auf ein Abtauchen vor.«
»Die Demonstranten auf eurem Alexanderplatz taten den lauernden Einsatzkräften aber nicht den Gefallen«, fuhr Nikolai fort. »Sie verhielten sich, bis in die Nacht, heiter-friedlich, gingen nach Hause und hinterließen die sprungbereiten Stalinisten in kulminierender Ratlosigkeit.
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