Das Buch war wirklich sehr spannend und fesselnd. Da tauchte plötzlich, wie aus dem Nichts, ein junger Mann direkt neben mir auf.
Ich zuckte lautlos zusammen, doch er ging an mir vorbei, als hätte er mich nicht bemerkt. Er sah wirklich sehr seltsam aus, mit seinen grasgrünen gestiftelten Haaren, seinen spitz endenden Ohren und dem äußerst altmodischen, „Robin Hood“ ähnlichen Aufzug. Am Gürtel trug er einen sechseckigen matt-silberfarbenen Anhänger mit grober Oberfläche, in dem der Umriss eines Hirsches eingeritzt war. Gegen den war ja sogar ich noch modern gekleidet! Ich vermutete, er wäre einer dieser verrückten Hippies, von denen es hier in der Stadt nur so wimmelte. Vor denen brauchte man sich aber nicht zu fürchten.
Über den oberen Rand meines Buches beobachtete ich ihn sehr genau. Er sah sich um, ging ein Stückchen, kniete sich auf den Boden nieder, holte ein kleines Pflänzchen aus dem Beutel, den er bei sich hatte und begann mit den Händen im Gras zu graben. Bestimmt war er ein Hippie - einer dieser fanatischen Naturschützer!
„Hey!“, rief ich, legte mein Buch beiseite und stand auf, doch er reagierte nicht. „Mit dir da drüben rede ich!“, rief ich erneut. „Was machst du hier in meinem Garten?“ Wieder reagierte er nicht, sondern grub weiter im Boden. Also ging ich auf ihn zu. „Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche und antworte auf meine Fragen!“, forderte ich ihn auf.
Endlich sah er mit seinen leuchtend gelben Augen zu mir hoch. „...Du kannst mich sehen...?“, fragte er unsicher. Wahrscheinlich stand er unter Drogen, oder so.
„Sag mal, bist du betrunken? Natürlich kann ich dich sehen!“, kam es daraufhin von mir.
„Aber... das kann doch nicht sein. Wie machst du das?“, wollte er wissen. „Ich meine, ich habe schon viele Menschen gesehen, aber du bist der erste, der auch mich sieht!“
„Hör endlich auf, mit dem Unsinn! Es stellt sich wohl eher die Frage, was du hier in meinem Garten machst und was diese komische Verkleidung soll!“, fand ich.
„Verkleidung? – Ich laufe immer so rum. Aber deine Gewandung ist ja auch etwas... gewöhnungsbedürftig...“, entgegnete er. Ich sah an mir herunter und stellte mit Entsetzen fest, dass ich meinen alten, bequemen, schweinchenrosa-farbenen Jogginganzug trug, da ich nicht damit gerechnet hatte, heute jemandem zu begegnen. „Und was ich hier mache? – Ich pflanze Bäume. Das hier wird eine Eiche, wenn sie groß ist“, fuhr er fort. „Mein Name ist übrigens Astor.“
„Lillian“, stellte auch ich mich vor.
„Darf ich etwas mit dir ausprobieren, Lillian?“, fragte er vorsichtig.
Nun war ich ein wenig irritiert. „Was denn?“
„Komm mit!“, forderte er mich auf und ging auf den Weidenbaum zu, unter dem ich gesessen hatte. Ich folgte ihm.
„Und jetzt leg deine Hand an den Baumstamm und versuche, in ihn hinein zu gegen“, erklärte er mir ruhig.
„Was soll der Blödsinn?“, fragte ich, und verschränkte die Arme.
„Pass auf, ich mache es dir vor“, sagte er, legte seine Hand auf die Rinde und ein seltsames Licht umrandete seine Finger. Dann ging er langsam in den Baum hinein und verschwand schließlich vollkommen darin. Ich konnte meinen Augen nicht trauen und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Mit weit aufgerissenen Augen und offen stehendem Mund näherte ich mich langsam dem Baum und berührte die Rinde, durch die der junge Mann einfach so hindurchspaziert war, doch nichts geschah.
War das alles vielleicht nur ein Traum? Ich konnte es nur hoffen. Denn ansonsten wäre diese Erscheinung nur damit zu erklären, dass ich verrückt geworden war. Ich erinnerte mich daran, wie mir meine Großmutter erzählt hatte, dass ihre Urgroßmutter, der diese Villa gehört hatte, damals von deren Nachbarn für verrückt gehalten wurde, weil sie angeblich Leute sah, die es gar nicht gab. Nur Großmutter selbst sagte immer, sie würde meine Urururgroßmutter nicht als verrückt bezeichnen, eher als sonderbar . Hoffentlich hatte ich das nicht durch die Gene geerbt! Derartige Gedanken schossen mir in diesem kurzen Moment durch den Kopf, bis Astors Gesicht wieder aus dem Baum zu mir heraus schaute.
„Na, los! Worauf wartest du noch? Komm mit!“, ermutigte er mich.
„Ich... kann nicht...“, stammelte ich, „Ich weiß nicht, wie das geht...“
„Es ist ganz einfach. Du musst nur Vertrauen haben! Nimm meine Hand.“ Inzwischen hatte er auch seinen Arm durch die Rinde gesteckt. Ich war neugierig geworden, also legte ich meine Hand in seine, schloss die Augen und tastete mich vorsichtig voran.
Astor lachte. „Du kannst die Augen jetzt wieder öffnen.“ Nun standen wir in einem richtigen Wald. Die Pflanzenvielfalt hier war erstaunlich, da wohl auch einige tropische oder gar längst ausgestorbene Arten dabei waren.
„Wo sind wir hier?“, wollte ich wissen.
„Das hier ist Emmerald, eine mystisch-magische Welt. - Und die Bäume sind die Portale dorthin. Hier lebe ich. Was diese Welt mit der deinen gemeinsam hat? - Es gibt dort exakt genau so viele Bäume und wenn ein Baum in deiner Welt gefällt wird oder stirbt, verschwindet er auch in Emmerald. Jeder Baum hier hat nämlich eine Verbindung mit einem bestimmten Baum in deiner Welt, so führt das Portal eines Baumes auch immer zum selben Ort hinaus und wenn es den Baum nicht mehr gibt, ist auch das Portal für immer ausgelöscht... Aber man muss gut aufpassen, da die Bäume in deiner Welt nicht so angeordnet sind, wie die in Emmerald und du darum durch den nebenstehenden Baum ganz woanders landen könntest“, erklärte er mir.
Ich wunderte mich. „Portale? - Ich dachte immer, die gibt’s nur im Märchen. Und das hier ist also eine andere Welt? Gibt es denn noch mehr Welten?“, stammelte ich.
„Kann sein. Ich weiß es auch nicht. Sonst sind die Hortenser für Menschen nicht sichtbar. Warum sollten es dann Bewohner einer anderen Welt für uns sein?“, überlegte er laut.
„Hortenser?“, fragte ich nach.
„Ja, Hortenser, so nennen wir uns hier in Emmerald, so wie ihr euch als Menschen bezeichnet. Wir lassen uns aber in zwölf verschiedene Rassen aufteilen: Zwerge, Gnome, Trolle, Kobolde, Feen, Waldelfen, Waldgeister, Wassergeister, Felswandler, Irrnächtler, Dämonen und Lichtgestalten. Ich bin übrigens ein Waldelf“, erklärte mir Astor.
„12 Rassen... Und was, wenn zwei verschiedene Rassen miteinander Kinder haben? Vermischen sie sich dann nicht? Oder ist das hier verboten? Gibt es denn keinen Streit unter verschiedenen Rassen, welches die beste ist? Ich meine, unter den Menschen war das einst so“, überlegte ich laut.
„Bei Menschen gibt es verschiedene Rassen? – Also für mich sehen die alle gleich aus... bis auf die Dunkelhäutigen vielleicht... Ja, auch bei uns gibt es Streit. Aber das hält sich in Grenzen. Bestimmte Rassen vertragen sich und andere auch wieder nicht so gut. Aber Hortenser können ihre Rassen nicht vermischen. Kinder werden als Junge zur Rasse des Vaters und als Mädchen zur Rasse der Mutter“, erklärte er mir.
„Aber wenn ihr eure eigene Welt habt, was macht ihr dann in unserer?“, wollte ich wissen.
„Du musst wissen, nicht jeder Hortenser bleibt freiwillig länger als bis zum nächsten Portal in eurer Welt, da sie für sehr schlecht gehalten wird. Jedoch sterben durch die Menschen so viele Bäume. Wir Hortenser benötigen nämlich weitaus mehr frische Atemluft als ihr, die uns von den Bäumen gespendet wird. Wenn also niemand etwas unternähme, würden wir sterben. So hat sich eine kleine Gruppe zusammengeschlossen um Emmerald zu helfen, indem sie in eurer Welt wieder Bäume pflanzt, da man in Emmerald Portale weder schaffen, noch zerstören kann. Wir können in eurer Welt aber auch nur Bäume pflanzen, was anderes geht nicht. Dein Buch, zum Beispiel, könnte ich nicht hochheben, denn es wäre für mich, als würde es mit dem Erdboden verankert sein. Etwa so, als müsste ich einen Stein mit den bloßen Händen in zwei Hälften teilen“, erzählte er mir.
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