Nach meiner Kündigung zu Hause angekommen, kaum die Haustür hinter mir geschlossen, kamen mir auch schon die Tränen. Zu lange hatte ich sie verstecken müssen. Ich stellte meine Tasche im Hausflur ab, obwohl mein Blickfeld bereits verschwommen war, lehnte mich anschließend kraftlos mit dem Rücken gegen die Tür, schloss die Augen und sank daran verzweifelt zu Boden, während ich spürte, wie mir Tränen die Wangen hinunter liefen. Dann begann ich zu weinen.
Nach einer Weile schleppte ich mich ins Wohnzimmer, ließ mich auf die Couch plumpsen und kauerte mich darauf zusammen, kuschelte mich in die vielen, dicken, weichen, Kissen, die meine Oma mit verschiedenen Bildern und Mustern bestickt hatte und heulte. Ich bekam den eiskalten Blick, den Monsieur Lamour in den Augen hatte, als er mich anschrie, einfach nicht mehr aus dem Kopf.
Als ich nach drei vollen Stunden endlich wieder mit zerzausten Haaren zwischen meiner Festung aus Polstern hervorkroch, schien die Abendsonne durch die langen, gleichfarbig, wie die Wohnzimmercouch, dunkelgrünen Vorhänge, die vor der großen gläsernen Terrassentür zugezogen waren. Nur durch einen kleinen Spalt zwischen den Vorhängen knallte das pralle Sonnenlicht hindurch, ansonsten war es dunkel im Zimmer. Dabei fiel der Lichtschein genau auf die alte staubige Spieluhr, die auf dem offenen Kaminsims im Wohnzimmer, neben dem Bild meiner Oma stand. Von mir gab es nicht viele Fotos, da ich mich nur ungern fotografieren ließ, weil ich mir selbst nicht gefiel. Und somit wäre ich auch nie auf die Idee gekommen, nach dem Tod meiner Oma noch irgendwo ein Bild von mir aufgehängt zu lassen. Ein Spiegel zerstörte mein Selbstbewusstsein schon genug.
Die Spieluhr bildete einen Baum ab, unter dem ein lesendes Mädchen saß. Ich erinnerte mich, meine Großmutter hatte mir etwas über sie erzählt. Immer wenn ich als kleines Kind traurig war, sang sie mir ein bestimmtes Lied vor. Und sie behauptete, diese besagte Melodie hätte die Spieluhr einst gespielt. Doch sie war kaputt, so weit ich mich zurückerinnern konnte. Großmutter hoffte, dass sie eines Tages wieder funktionieren würde.
Nun stand ich auf, ging auf die Spieluhr zu, nahm sie in die Hand, wischte den Staub von ihr und versuchte sie aufzuziehen, doch es ging nicht. Der kleine Hebel ließ sich einfach nicht bewegen. Ich war technisch begabt, das hatten mir schon viele Leute bestätigt, so entschloss ich mich dazu, die Spieluhr selbst zu reparieren, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Sie war sowieso kaputt, was könnte ich also noch großes daran anrichten? Mit einem kleinen Kreuzschlitzschraubenzieher öffnete ich nun in der Küche den Deckel am Boden der Antiquität und fand darin ein Stückchen Stoff.
„Kein Wunder, dass das Ding nicht mehr läuft!“, dachte ich, während ich versuchte, die Fasern des Stoffes von den Zahnrädern zu lösen.
Als ich daran zog entfaltete sich der Stoff und etwas fiel heraus. Es war ein zusammengefaltetes, beschriebenes Stück Papier. Darin eingewickelt befand sich eine Halskette aus braunem Lederband. Ein Amulett aus einem matt-silbernen Metall hing daran, welches oben oval und unten rechteckig endete, mit einem Umriss eines Baumes sorgfältig eingeritzt und einem weiß-braun gemusterten Stein darüber eingefädelt. Irgendwie gefiel es mir, weil es so schlicht und unauffällig war. Ob Großmutter wohl davon wusste? – Klar! Sie musste es dort versteckt haben und wollte, dass ich es eines Tages finde! Nun sah ich mir das Stück Papier genauer an und erkannte, dass ganz klein darauf mit der Handschrift meiner Großmutter eine Nachricht an mich geschrieben stand:
Lillian, mein Liebling,
schön, dass du meinen Wunsch erfüllen wolltest, die Spieluhr zu reparieren. Ich wusste, dass du es eines Tages versuchen würdest, darum habe ich darin mein kostbarstes Erbstück für dich aufbewahrt. Mit dir ist es nun schon seit sechs Generationen in unserer Familie.
Dieses Symbol nennt sich „Lebensbaum“. Es steht für Wachstum, Heilung, Wiedergeburt und göttliche Weisheit. Der darüber angebrachte Achat ist ein Schutz- und Abwehrstein. Er soll negative Einflüsse von dir fern halten.
Bewahre es gut auf, denn es ist etwas ganz Besonderes. Es scheint zwar wertlos zu sein, doch glaube mir, es ist unendlich kostbar und mit Geld nicht zu bezahlen.
Erst durch das Tragen dieses Amulettes wirst du seinen wahren Zweck entdecken. Lege es aber erst an, wenn du dich dazu bereit fühlst, dein Leben vollkommen zu verändern.
Diese geheimnisvolle und sogar mystische Seite kannte ich gar nicht an meiner Großmutter. Doch ich fühlte mich sehr wohl dazu bereit, mein Leben vollkommen zu verändern. Wenn nicht jetzt, wann dann? Außerdem passte diese angebliche Wirkung des Amuletts zur Zeit so gut auf mich, auch wenn ich nicht abergläubisch, sondern eine totale Realistin war. Wachstum... ich müsste über mich selbst hinaus wachsen. Heilung... meine Wunden, die mir mein Chef zugefügt hatte, müssten wieder heilen. Wiedergeburt... ich müsste ein vollkommen neues Leben beginnen. Und göttliche Weisheit... ich hätte wissen müssen, dass mein Chef nie und nimmer Interesse an mir haben könnte. Schutz und Abwehr vor negativen Einflüssen... das wäre immer gut. So legte ich mir die Kette um den Hals und trug sie seitdem Tag und Nacht. Nachdem ich die Spieluhr anschließend wieder zugeschraubt hatte, zog ich sie auf und lauschte der herrlichen Melodie, von der mir meine Großmutter erzählt hatte...
Natürlich hatte ich vor, mir wieder eine Arbeit zu suchen. Aber diese wollte ich dann wenigstens auch gut machen. Und in meinem momentanen Zustand des Liebeskummers konnte ich das vergessen. Immer nur musste ich an Pascal denken. Nur gut, dass ich immer sehr sparsam gelebt hatte und mir so inzwischen mehr als genug zusammengespart hatte, um nicht in Geldnot zu geraten. In den darauf folgenden Tagen ging ich oft spazieren und las sehr viel, um mich von meinen Gedanken abzulenken und mir die Zeit zu vertreiben, da ich das Fernsehen verabscheute. Ich weiß, was die meisten jetzt über mich denken würden: Langweilig, altmodisch, verklemmt und spießig...
Bei meinen Spaziergängen geschahen oft sehr merkwürdige Dinge. Außer, dass sich nun öfters eigenartig aussehende Leute hier herumtrieben, (Bestimmt waren das nur diese verrückten Hippies, die es bei uns in der Stadt gab.) hatte ich plötzlich eine unheimliche Glückssträne. Einmal rief jemand nach mir. Ich blieb stehen um mich umzusehen und stellte fest, dass nicht ich, sondern ein kleines Mädchen, welches wohl auch Lillian hieß, gemeint war. Kurz vor mir ließ eine Taube etwas vom Baum fallen. Wäre ich weiter gegangen, hätte sie mich wohl genau auf den Kopf getroffen.
Ein Andermal waren mir die Schnürsenkel aufgegangen, ohne dass ich es bemerkt hatte. Ich stolperte, fand das Gleichgewicht aber wieder. Nur gut, dass gerade niemand in der Nähe war, der mich beobachten konnte... Doch das eigentliche Glück war, dass ich sonst in Hundekacke gefallen wäre. Erst beim Schuhe zubinden wurde ich auf den Hundehaufen aufmerksam. Ansonsten wäre ich wohl zumindest hinein getreten. Zusätzlich fand ich ein 1-Cent-Stück auf der Straße. Soll ja angeblich Glück bringen...
Pascal Lamour lernte ich in dieser Zeit zu hassen und schließlich zu vergessen. Doch heute Nachmittag geschah dann plötzlich etwas sehr unerwartetes: Mein Chef rief bei mir zu Hause an und entschuldigte sich bei mir wegen seines Benehmens. Es hätte da nur ein Missverständnis gegeben und mich hätte keinerlei Schuld getroffen. Die teuren Telefonate fänden nämlich noch immer statt. Er bot mir meinen alten Job wieder an, doch ich lehnte ab. Immerhin hatte sogar ich noch ein kleines bisschen Stolz.
Nachdem ich jedoch den Hörer des altmodischen Telefons wieder auf die Gabel gelegt hatte, kam ich mir schrecklich dumm vor. Wieso hatte ich nicht angenommen? Die Arbeit war immerhin nicht schlecht und wurde auch noch gut bezahlt... außerdem hatte er sich doch bei mir entschuldigt... Um diesen absurden Gedanken aus meinem Kopf zu bekommen, setzte ich mich im Garten unter die große Trauerweide und las einen Krimi. Dabei kam ich mir ein bisschen wie das Mädchen auf der Spieluhr vor.
Читать дальше