1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 „Welche Hortenser kennst du, die in der Zeit, als Pendragon noch regierte, schon lebten?“, fragte ich Astor. „Wer, außer Luno, ist um die 160 Jahre oder älter?“
„Da kenne ich eine Hand voll Hortenser...“, meinte Astor darauf.
Sogleich machten wir uns auf den Weg zu dem ersten. Es war ein Felswandler und sein Name war Onox. Er schien verwundert darüber, dass wir uns so für Pinienträne interessierten, stellte jedoch keine Fragen. Onox konnte uns nur bestätigen, dass Pinienträne kein Mythos war, sondern dass es sie tatsächlich gab und dass sie Pendragon die letzten Jahre seines Lebens besessen hatte. Er wusste jedoch auch nicht, wo er Pinienträne versteckt hatte, noch woher er sie bekommen hatte, da der Herrscher vor Pendragon Pinienträne noch nicht besaß. Jedoch kannte er die angebliche Entstehungsgeschichte von Pinienträne:
Hortenser verwandeln sich nach ihrem Tod nämlich in kleine Zinnfiguren. Und man sagt, dass Pinienträne die Zinnfigur wäre, in die sich der erste gute und gerechte Herrscher über Emmerald verwandelt hätte. Sein Name war Metro und er war von der Rasse ein Waldgeist. Am Tag nach seinem Tod ließen alle Nadelbäume ihre Pinienzapfen wie Tränen fallen. Daher stammt auch der Name Pinienträne .
Das hieß, Pinienträne musste, wenn man der Legende trauen darf, zumindest zum Teil aus Zinn sein. Onox hatte uns damit schon ein Stückchen weitergebracht. Wir bedankten uns bei ihm und suchten sogleich den nächsten auf. Die Informationssuche breitete sich noch über einige weitere Felswandler und Zwerge aus. Zu den Gnomen und Kobolden die Astor noch wusste, weigerte er sich jedoch mich hinzubringen, da diese Rassen bereits ziemlich gemein und unverschämt wären, besonders was das Lügen und die Gegenleistungen anging. Von Astors ausgewählten Leuten verlangte jedoch niemand eine Gegenleistung. Leider wussten uns die nach Onox folgenden Hortenser auch nicht mehr, als dieser...
Bis Sonnenuntergang waren wir von Hütte zu Hütte unterwegs gewesen. Bei anbrechender Dunkelheit brachte mich Astor dann in sein Baumhaus am Waldrand. Er sagte, dass nun die Rassen der Nacht unterwegs wären, also hauptsächlich Dämonen und ihre bessere Hälfte, die Irrnächtler, zu denen auch Drako zählte, einige Gnome, Trolle und Kobolde... und dass diese nicht gerade freundlich wären. Das wunderte mich nicht, nachdem ich Drakos Bekanntschaft ja bereits gemacht hatte. Aber wenn Drako noch ein Irrnächtler ist, wie sind dann erst Dämonen gesinnt...? Drako war eine der Ausnahmen seiner Rasse, die sich auch tagsüber heraus trauten, da die meisten Irrnächtler das Sonnenlicht meiden, wie mir Astor erklärte. Darum wären die Rassen der Nacht am Tag fast ausschließlich in dunklen Stellen des Waldes anzutreffen.
In dem kleinen Baumhaus war es recht schön, ja irgendwie sogar romantisch. Ich ging zum Fenster und sah hinaus. Dabei kam mir eine Kindheitserinnerung: Einige meiner Klassenkameraden hatten auch ein Baumhaus. Zu gern wäre ich auch mal hinaufgestiegen, hätte die wunderbare Aussicht bewundert und mir vorgestellt, ich wäre ein Vogel, so frei und unabhängig... Ich hätte zu gern darin gespielt und in warmen Sommernächten dort oben übernachtet... hätten sie mich in ihr Reich gelassen. Leider besaß ich selbst nie ein Baumhaus... Aber jetzt, in diesem Moment, war ich nun endlich auch mal in einem! So lange musste ich warten... Gedankenversunken träumte ich vor mich hin.
„Lillian? – Lillian, ich hab dich was gefragt“, hörte ich Astor plötzlich neben mir, worauf ich wieder in die Gegenwart zurückkehrte.
„Oh! Tut mir leid, ich habe nicht zugehört“, gab ich zu.
„Schon gut, war nicht so wichtig. An was denkst du gerade?“, wollte er nun wissen.
„An meine Kindheit, denn da wollte ich auch immer ein Baumhaus haben“, gab ich ihm zur Antwort.
„War sie schön, deine Kindheit?“, kam die Frage an mich.
„Nein, nicht immer. Meine Eltern starben, als ich sechs Jahre alt war. Von da an kümmerte sich meine Großmutter um mich. Außerdem hatte ich keine Freunde. Kinder wollten nicht mit mir spielen, als ich selbst noch eines war, stattdessen wurde ich von ihnen ausgeschlossen und verspottet... Um ehrlich zu sein, ich hasse meine Kindheitserinnerungen...“, gestand ich.
„Dann denk doch einfach nicht mehr daran. Wirf die Sorgen weg. Was vorbei ist, ist vorbei. Das kann man nicht mehr ändern. – Und das ist auch gut, so. Denn all deine Taten machen deinen Charakter aus und hättest du damals etwas anders gemacht, wärst du heute nicht genau so, wie du bist“, erklärte er mir, während er eine Kerze anzündete, die er aufs Fensterbrett stellte.
„Hast ja Recht...“, meinte ich, noch etwas betrübt von meinen Erinnerungen.
Dann nahm Astor einen Stuhl aus der Ecke und stellte ihn vors Fenster. „Setz dich doch!“, bot er mir freundlich an.
Nun durchfuhr mich ein kalter Schauer und mich fröstelte.
„Oh, ist dir kalt?“, fragte Astor.
Ich nickte nur stumm. Darauf holte er eine große dicke Decke aus einer Holzkiste und warf sie mir um die Schultern. Sie war schwer, aber warm. Ich schlang mich darin ein und zog sie mir bis über den Hals, sodass nur noch mein Kopf heraussah. Die Decke duftete angenehm nach Nadelwald. Dann setzte ich mich und betrachtete weiterhin die herrliche Aussicht. Nun sah ich zu Astor hinüber, der rechts neben mir auf der Holzkiste saß, aus der er die Decke geholt hatte, da ich seinen einzigen Stuhl besetzte.
„Friert dich denn nicht?“, interessierte es mich, worauf mir Astor rasch antwortete: „Nein, nein...“
In seiner Stimme war ein leichtes Zittern zu vernehmen, das sich an seiner Unterlippe noch deutlicher zeigte und sein Atem, mit dem er diese Worte aussprach, ergab eine Art Nebelschleier in der Kälte. Ich spürte an meinen Wangen, dass es in dieser kurzen Zeitspanne noch kälter geworden war. Astor zitterte beinahe schon, riss sich aber zusammen. Also nahm ich das eine Ende der Decke in meine rechte Hand und streckte den rechten Arm aus, wie eine Fledermaus, die einen Flügel ausbreitet.
„Du bist ein schlechter Lügner, Astor“, stellte ich fest, während ich ihm den Arm um die Schultern legte, um ihn auch in die Decke zu wickeln und dabei seine kalte Haut berührte. „Die ist groß genug für uns beide.“
„Danke. Ich habe leider nur diese eine Decke. Auf Besuch bin ich nicht vorbereitet“, erklärte er etwas beschämt.
„Ich muss danken, immerhin ist es deine Decke und du warst nicht dazu verpflichtet, sie mir zu überlassen“, bedachte ich. „Ich will ja nicht, dass du dich erkältest.“
„Erkälten? Was ist das? Ach, das ist eine Krankheit in der Menschenwelt, richtig? In Emmerald gibt es keine Krankheiten. Die Kälte oder auch die Hitze hier ist nur sehr unangenehm. Der Mondmann scheint nicht gerade gut gelaunt zu sein... Es ist normal, dass es nachts ein bisschen kühl wird. Aber sowas...“, er beendete den Satz nicht.
Wir blickten gemeinsam hinaus auf den Sonnenuntergang, wie er sich in den wundervollen Sternenhimmel mit den zwölf Monden verwandelte. Und ich erinnerte mich an letzte Nacht, wie Luno mir den Mond hergeholt hatte. Heute war es etwas neblig, doch trotzdem fanden die Glühwürmchen zu uns. Wahrscheinlich lag das daran, dass ich heute Nacht auch leuchtete. Dann beachtete ich erstmals das Dorf darunter. Dunkle, rotäugige, unheimliche Gestalten trieben sich etwas außerhalb herum. Dämonen und Irrnächtler.
„Unheimlich...“, meinte ich.
„Normal“, sagte Astor.
„Schon ein komisches Gefühl, nicht müde zu werden... Ewig wach sein, ewig andauernde Freizeit... Es gibt doch nichts, zu was ihr Hortenser notwendiger Weise verpflichtet seid... Ihr braucht nicht kochen oder essen, denn die Nährstoffe holt ihr euch durch Wurzeln aus dem Boden, ihr braucht nicht waschen, denn ihr könnt nicht schmutzig werden und auch nicht schwitzen, somit braucht ihr die Wäsche auch nicht zu trocknen und zu bügeln, putzen braucht ihr auch nicht, weil es, wie ich sehe, hier noch nicht mal Staub gibt, ihr müsst kaum etwas aufräumen, weil die meisten von euch so gut wie nichts besitzen, manche von euch brauchen ja noch nicht mal ein Haus, weil jeder Hortenser ab seinem 15. Lebensjahr selbständig ist,... Ihr müsst ja noch nicht mal aufs Klo! Sag mal, Astor, was macht ihr Hortenser eigentlich den ganzen Tag?“, interessierte es mich.
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