,Gewiss’, dachte Karl, ,tut es gut die Liebe der Mutter, ihre Sorge und ihre Herzenswärme zu spüren’. Auch hätte er ihr gern eine Nettigkeit gesagt, doch als kerngesunder Hitlerjunge, bestand seine Pflicht darin, dem Vaterland treu zu dienen und nicht mit gebundenen Händen zuzusehen, wie an der Front verantwortungsbewusste Soldaten für ein neues Deutschland und für eine neue Weltordnung kämpften. Der Militärdienst ist und bleibt eine heilige Sache.
„Und noch eins”, sagte Karls Mutter in seine Gedanken hinein: „In ein paar Tagen wirst du die Uniform tragen, das ist nun unabänderlich, zugleich aber unheilvoll. Deine Entscheidung für den freiwilligen Kriegsdienst hat dein Vater befürwortet – leider! Heute weiß ich, es war falsch, dazu zu schweigen. Immer habe ich mich untergeordnet, getan, was der Vater wollte. Was er sagte, war Gesetz.”
In ihren Augen blitzte jäh ein Feuer auf, das lange in ihrer Seele, tief verborgen, geglimmt haben musste. Die Frau, die sich untergeordnet hatte und ohne aufzumucken von früh bis spät die Familie umsorgte, alle Schmerzen und Leiden erduldet hatte, warf ihre Duldsamkeit jäh ab. Selbstbewusst fuhr sie fort: „Die Bibel, Karl, schreibt vor, dass die Frau dem Mann untertan sei. Dasselbe fordert auch die Männergesellschaft, in der wir leben. Und wenn es nach den Herren von der Wirtschaft und der Politik geht, dann soll es bis in alle Ewigkeit so bleiben. Es steht mir nicht zu, dir oder Vater die Leviten zu lesen, doch in Zukunft werde ich mit meiner Meinung nicht mehr hinter dem Berg halten.”
Lange saßen beide noch beisammen, doch als ein kühler Luftzug durchs offene Fenster drang, wünschten sie sich Gute Nacht. An diesem Abend konnte Karl lange nicht einschlafen. Wie benommen ging er zum Fenster, blickte zur Sichel des Mondes. Ein undefinierbares Gefühl stieg in ihm auf, das bohrte und biss. ,Wo ist nur der Ursprung für die Gefühle und Gedanken, welch geheimnisvolles Gesetz der Verquickung zwischen Schein und Wirklichkeit gibt es. Wo ist der Keim des neuen Willens der Mutter’, fragte er sich. Was wusste er schon mit seinem siebzehn Lenzen. Obwohl er noch lange grübelte – Erkenntnisse oder eine Offenbarung erlangte er an diesem Abend nicht. Sein Schlaf wurde von Alpträumen zerrissen.
Der letzte Tag seines zivilen Lebens – es war ein Sonntag – entstieg einer milden Frühlingsnacht. Der Himmel, wolkenlos, verkündete einen heißen Tag. Hoch im Äther jubilierten Lerchen. Im Gebüsch vor Karls Fenster tschilpten aufgeregt muntere Spatzen. Schwalben schossen Futter suchend durch den weiten Domänenhof.
Nach einem gemütlichen Frühstück mit der Mutter und den Geschwistern zog es Karl zu den Großeltern väterlicherseits. Die Eltern der Mütter waren verstorben. Langsam ging Karl durch die Straßen. Die Vormittagssonne schwebte schon dem Zenit entgegen. Heiß brannten ihre Strahlen aufs Land. Vor der Kirche, zur Kirchgasse hin, zog der Duft von Linden, der sich mit den scharfen Gerüchen des Schafstalls vermengte, in Karls Nase. Zwei Amseln, auf einem Grasstück hüpfend, flatterten angesichts Karls Näherkommen davon.
Karls Blick ging in die Ferne, wo hinter dem Ort das Goldgrün der Hügel und Berge leuchtete. Die Sehnsucht, dort hinauf zu wandern musste er sich heute versagen. In die Kirchgasse einbiegend, stand er wenige Augenblicke danach vor dem Haus, in dem die Großeltern wohnten. Mit gemischten Gefühlen betrat er den Hof. Der Großvater, ein großer, stattlicher Mann, der einst Hünenkräfte besessen, stand vorm Kaninchenstall und fütterte. Die Großmutter, rundlich, mit offenem gütigem Antlitz, das stets warm leuchtete, saß im Schatten des Hauses und strickte. Bei Karls Erscheinen zog ein helles Aufleuchten in ihre dunklen Augen. Sie legte das Strickzeug zur Seite und rief: „Opa, Karli ist gekommen!”
Sie stand auf, umarmte Karl und drückte ihn fest an ihre Brust.
Leise sagte sie zu ihm: „Es ist schön, mein Junge, dass du uns noch einmal besuchen kommst!” In ihren Augen schimmerten Tränen. Der Großvater verriegelte den Kaninchenstall und trat zu den beiden. Strahlend sagte er zur Großmutter: „Nun lass den Karli mal wieder los. Du erdrückst den Jungen noch, bevor er Soldat wird.” Auch er schloss seinen Enkel herzlich in die Arme. In seinem schmalen Gesicht traten die Wangenknochen seit einiger Zeit immer stärker hervor. Sein Kaiser-Wilhelm-Bart war aber wie eh und je gezwirbelt. Die Männer setzten sich zur Großmutter auf die Bank. „Schön, mein Junge”, meinte der Großvater, „dich noch einmal zu sehen, denn man weiß ja nie, was im Krieg alles passieren tut.”
„Male den Teufel nicht an die Wand!” sagte die Großmutter zornig. Ihre Stimme zitterte, als sie erregt fortfuhr: „Denk doch nur an unseren Paul, der in seinem achtundzwanzigsten Lebensjahr von blutiger Hand in Polen gemordet wurde. Und für wen?”
Betretenes Schweigen folgte. Auch wenn die Großmutter elf Kindern das Leben geschenkt hatte, war ihr doch jedes Kind ans Herz gewachsen. Unfassbar war daher der Tod des zweitjüngsten Sohnes.
Karl konnte die Verbitterung der Großmutter verstehen. Auch wenn die Familie groß war, so waren sie immer ein Herz und eine Seele gewesen. Es gehörte bis zu Kriegsbeginn zur Selbstverständlichkeit, dass die Kinder und Enkel sich an den Sonntagnachmittagen bei den Großeltern einfanden, um Kaffee zu trinken, zu plaudern, Skat zu spielen oder einfach nur dabei zu sein. Die Enkel spielten oder tollten herum, hörten Grammophon oder lauschten den Witzen, die Onkel Gustav lachend erzählte.
Nach einem kurzen Schweigen erzählten die Großeltern von ihrem harten und entbehrungsreichen Dasein. ,Nun müssten sie mit Bitternis erleben’, äußerte sich Großmutter, ,dass nicht die Alten sterben, sondern die Blüte der Jugend auf den Schlachtfeldern sinnlos verreckt.’
„Und warum das alles?” fragte die Großmutter mit hochrotem Kopf. Ihre Antwort hatte sie auch sofort parat: „Weil die Politiker der Welt unvernünftig sind und sich nicht einigen können.”
Großvater kniff die Augenlider Spalt breit zusammen. Er stieß Karl an. „Das ist Großmutters letzte Weisheit”, meinte er gelassen. „Von großer Politik versteht sie nichts, wie fast alle Frauen. Aber sie sind gern feurige Scharfrichter. Wir, mein Junge, sind die Söhne des Vaterlandes. Unsere Aufgabe ist es, mit Leib und Seele die Heimat zu verteidigen und gehorsam unsere Pflicht zu erfüllen. So war es schon beim Kaiser, als ich treu gedient habe. Ich war ohne Furcht. Sei auch du ein tapferer Junge.” Zufrieden strich er seinen Kaiser-Wilhelm-Bart.
Großmutter warf den Kopf zurück. Ihre Augen funkelten zornig.
„Und das ist deines Großvaters Weisheit: Untertan zu sein und zu gehorchen! Es zerreißt mir fast das Herz, unsere Kinder für einen sinnlosen Krieg opfern zu müssen. Dazu haben wir Frauen die Kinder doch nicht zur Welt gebracht.”
Karl zog sie an seine Brust und küsste ihre Stirn. „In kurzer Zeit, Oma”, tröstete er sie, „kehre ich mit den Siegern nach Hause zurück. Aber erst einmal verlasse ich Volkstedt, um als Patriot und Panzersoldat mitzuhelfen, den Krieg zu gewinnen.”
„Junge, es ist doch entsetzlich, wenn einem Kugeln um den Kopf sausen und von allen Ecken starrt dich der Tod an … Der Krieg ist ein Riesenunglück, weil er nur Elend und Jammer bringt.”
„Oma, wir deutschen Patrioten dürfen keinesfalls knieweich werden. Der Geist, der unser Volk für einen siegreichen Feldzug begeistert, fordert auch meinen selbstlosen Beitrag. Angesichts der feindlichen Bedrohung sind unsere jugendlichen Seelen in heiliger Pflicht entbrannt, um das Vaterland allseitig zu schützen.”
In diesem Augenblick läuteten die Glocken der Kirche zum Gottesdienst. Weithin hallten sie anschwellend und kraftvoll tönend durchs weite Tal. Da Karl die Absicht hatte, noch einmal den Gottesdienst zu besuchen, verabschiedete er sich in aller Herzlichkeit von den Großeltern.
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