„Du bist also Beth geblieben? Du bist also die Gegen-Lissi?“ Ich erinnerte mich an meinen gestrigen Gedanken. Die perfekte Ablenkung. Jetzt konnte ich die Fragen stellen. Ich sortierte meine Gedanken, wischte mir die Schminke aus dem Gesicht und freute mich auf Beth’ Ausführungen.
„Ich denke, irgendwie so lässt es sich beschreiben. Ich bin den geplanten Weg weitergegangen, auch ohne Lukas, den Weg, den du, den wir uns vorgenommen hatten. Es war ein sicherer Weg, den du gewählt hast. Manchmal habe ich mich auch nach Unbekümmertem gesehnt. Nach einem Weg, der vorgeplant und anerkannt war. Du bist sicher den einfacheren, den sicheren Weg gegangen. Vor allem in der Zeit, in der ich mich ganz alleine gefühlt habe, während der Auseinandersetzung mit unserem Vater. Er hätte es auch sehr gerne gesehen, dass ich erst was Vernünftiges lerne, bevor ich mich um die „brotlose Kunst“ kümmere. Da hätte ich jemanden an meiner Seite gebraucht. Da war ja sonst immer Lukas, der mir beistand. Auf den konnte ich nun nicht mehr zählen. Zum Glück hatte ich ja noch die Freunde. Die waren mir immer eine Rettung.“ Beth seufzte und wurde still.
Mir wurde ganz schwindelig. Ich bekam also die Chance, mein Leben anzuschauen. Also das Leben, wie es gewesen wäre, wenn ich einen anderen Weg gegangen wäre. Genau an dieser Stelle. Also war das der Bruch, der Anfangspunkt?
„Hast du also noch Kontakt zu Lukas?“ Mir wurde ganz flau im Magen, nachdem die Worte meine Lippen verlassen hatten. Im gleichen Moment wollte ich die Antwort schon gar nicht mehr hören. Die Wunde war heute schon genug aufgerissen worden. Warum noch Salz hineinstreuen? Aber das machte ich ja gerne, immer noch mal draufhauen! Wie war doch die Bezeichnung gleich für diese Art von Menschen? Masochisten. Zu dieser Gruppe musste ich wohl gehören. So eine musste ich sein.
Beth sah nach unten, anscheinend ging ihr das Thema auch nahe. Sie antwortete mit leiser Stimme.
„Nein, nicht direkt. Ich bin ihm danach nie wieder begegnet. Wir, du und ich, haben da gleich gehandelt. Lukas und ich haben aber quasi das Sorgerecht für unsere Freunde geteilt. Er hatte zwar versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen, aber darauf bin ich nicht eingegangen. Die Informationen über ihn habe ich durch unsere Freunde und durch die Szene, in der wir beide verkehrten, bekommen. Ich wusste ungefähr, wo er unterwegs war. Aber ich war auch nicht die ganze Zeit in Nürnberg oder Umgebung. Ich hatte ja auch nach dem Gespräch die Heimat verlassen, habe in den verschiedenen Ländern und Kulturen meine Wunden heilen lassen und habe mich mit Inspiration angereichert, habe Europa bereist und an den verschiedensten Universitäten Kunst und Malerei studiert. Aber ich musste immer wieder an ihn denken. Die erste Liebe ist nicht so leicht zu vergessen. Vor allem, wenn sie so lange gehalten hat. Zum Glück hat der Schmerz mit der Zeit nachgelassen, und es kamen auch immer wieder gute Erinnerungen dazu. Jetzt kann ich auch sagen, keine andere Liebe verursacht solche Schmerzen, wie die erste. Alle Männer danach, die mir das Herz gebrochen haben, der Trennungsschmerz, hatten nicht diese Intensität. Lissi, ging es dir nicht ähnlich?“
Ich brauchte nicht lange nachdenken, bevor ich antwortete. „Ich habe nie wieder jemandem die Macht über mich und mein Herz gegeben. Ich bin doch nicht selbstzerstörerisch.“ Ich haute zwar gerne auf mir herum, aber solche Schmerzen würde ich mir nicht noch einmal antun. Es gab Grenzen.
„Außer jetzt Ben?“ Beth grinste mich an.
Außer Ben, nein, auch dem nicht. Ich fasse doch auch nicht wieder auf eine glühend heiße Herdplatte, wenn ich mir dabei schon einmal die Hände verbrannt habe. Dann weiß ich vorher, dass ich mich dabei verbrenne. Also, warum sollte ich mich in Herzensangelegenheiten anders verhalten. Das schien mir unlogisch.
„Mit Ben ist es anders. Wir respektieren uns auf ganzer Linie. Er würde mir nie wehtun, und er ist so lieb. Wir verstehen uns super. Wir geben uns die nötigen Freiräume, und alles läuft gut. Er ist mein Vertrauter, aber sollte es hart auf hart kommen, dann würde ich ohne weiteres ohne ihn auskommen können! Das hört sich jetzt sehr hart an, aber ganz so ist es nicht gemeint. Ich habe einfach gelernt, dass ich mich auf nichts verlassen kann. Also muss ich darauf achten, dass ich auch immer alleine klar komme. Also, bei uns ist alles einfach super, ok?!“
„Alles klar!“ Beth verzog das Gesicht. Ich war mir sicher, dieser Gesichtsausdruck gehörte nicht zu meinem Repertoire. Den hatte sie sich angeeignet, nachdem wir unterschiedliche Wege gegangen waren.
„Lissi, was sind deine Träume? Hast du irgendetwas, was du noch unbedingt machen willst? Etwas, was du schon lange machen wolltest?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe und wie alles ist. Es ist immer so wie erwartet, und das mag ich auch. Alles ist berechenbar und dadurch kontrollierbar. Für dich hört sich das vielleicht wie eine öde Bestrafung an, aber für mich ist das Sicherheit. Sicherheit, dass ich nicht von plötzlichen Veränderungen überrascht werde.“
„Aber Lissi, Unsicherheiten und Risiken, das nennt man doch Leben! Es ist nicht alles vorausplanbar und kontrollierbar. Es gibt so viele Varianten, die du alle nicht vorhersehen kannst.“
„Ich glaube, man kann sehr viel planen. Die paar Dinge, die nicht planbar sind, sind erträglich.“
„Ok, ok!“ Es schien fast so, als ob Beth aufgeben wollte. Ich pfuschte ihr nicht in ihrem Leben herum, dann musste sie doch auch nicht die ganze Zeit in meinem rumwurschteln. Ich hatte aber noch eine Sache im Kopf: ich war zwiegespalten und wusste nicht, ob ich es wirklich wissen wollte. Aber eigentlich stand ich doch über diesen Dingen. Ich war doch auch stolz darauf, was ich bis jetzt erreicht hatte. Ich musste mich nicht verstecken!
„Beth, wie kam es, wie war es, als du dich dazu entschieden hast, wirklich mit der Kunst weiter zu gehen? Vor allem: wie hast du das bei unserem Dad durchgeprügelt?“
„Ich habe niemanden gefragt, nichts hinterfragt, ich habe damals einfach aus Trotz mein Ding durchgezogen. Nach dem Gespräch mit Lukas habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen und bin im Internet herumgesurft und habe überall die Möglichkeiten gecheckt, wie ich in anderen Ländern an die Unis kommen könnte. Ich habe alle Vorbereitungen in den direkt danach liegenden Wochen getroffen. Mum und Dad haben mir einen Trip nach Italien ermöglicht, damit ich auf andere Gedanken komme. Dort habe ich für drei Monate einen Sprach- und Kunstkurs gemacht und mich entschlossen, in München an der Akademie der Künste zu bewerben. Im Jahr darauf habe ich dort einen Platz bekommen. Im Studium habe ich mein Auslandssemester in Florenz verbracht. Von meinen Plänen, davon hatte ich gar nichts erzählt. Ich habe sie beide, vor allem Dad, einfach vor vollendete Tatsachen gestellt. Dad und ich haben eine Weile danach kaum mehr miteinander geredet. Du weißt ja, wie er ist. Aber, als ich dann mit meiner Kunst langsam erfolgreich wurde und mit der Kunst mein Brot verdienen konnte, kam auch er zu meinen Ausstellungen. Das hat natürlich seine Zeit gedauert, bis er meine Arbeit vollkommen akzeptieren konnte. Aber er musste sich daran gewöhnen, und das hat er dann auch. Hast du denn alle deine Pläne mit den Eltern besprochen?“, fragte Beth ironisch.
Ja, am Anfang schon. Sie hingegen hatte sich also komplett auf sich selbst verlassen. Bei mir kam der Knick nach dem Gespräch. Ich fiel in Dads Arme und habe mich einfach seinem Plan hingegeben. War es das? War das der Unterschied? Ich war noch ganz in Gedanken, als ich langsam anfing, ihr zu antworten.
„Nein, naja am Anfang schon. Dad fand die Idee, dass ich Wirtschaftsprüferin werde, natürlich großartig. Er war ja auch derjenige, der mir das Praktikum besorgt hatte. Von da hat sich alles verselbstständigt. Unsere Eltern erwarteten, glaube ich, beide, dass ich nach dem Praktikum wieder nach Hause komme. Ich habe das dann alles alleine durchgezogen. Aber du, Beth, noch eine Frage: kann man denn mit Malen Geld verdienen?“
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