Eine Bedienung trat zu ihnen an den Tisch. Ihr ganzer Körper wurde durch einen braunen Tschador verhüllt. Ahmad fühlte sich sogleich unwohl in seiner Haut. Die Augen der wahrscheinlich hübschen jungen Dame sahen die beiden zwar ruhig und gelassen an. Auch Mouad überkam trotzdem ein ungutes Gefühl ob dieser Frau. Er glaubte nämlich, eine Spur aufmerksame Verschlagenheit in ihrem Gesichtsausschnitt zu erkennen. Er vermied es deshalb, um kein Aufsehen zu erregen, sie zu intensiv zu mustern. Das braune Tuch vor ihrem Gesicht war zudem etwas nach unten verrutscht. Mouad glaubte, in dem zu großen, von schwarzem Stoff umrahmten Gesichtsausschnitt, die obere Hälfte eines verkniffenen, unfreundlichen Mundes zu erkennen, der sein Misstrauen unbewusst gegenüber der jungen Frau noch verstärkte. Ihm fielen Gerüchte ein, die er von seinem Vater über gut getarnte Geheimdienstmitarbeiter aus dem Iran, Syrien und der IS erhalten hatte, die als Schläfer an unverdächtigen Orten agierten.
Ahmed wusste zudem: Den Libanon, den es bis ungefähr 2013 gab, existierte praktisch nicht mehr. Die Bevölkerung hier hatte sich nämlich aufgrund des jahrelangen Bürgerkrieges in Syrien und der Errichtung eines ultrareligiösen Kalifats mehr als verdoppelt. Alle Konfliktparteien hatten Aktivisten respektive Untergrundkämpfer in die Levante eingeschleust - und dadurch entwickelte sich der Libanon mehr und mehr zu einem Pulverfass, dessen Lunte immer schneller abbrannte. Die ständig zunehmenden und immer gewaltsamer ausgetragenen Scharmützel zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen waren ein untrügliches Zeichen davon.
Ahmad schrak aus seinen Gedankengängen auf:
„Was möchten die Herren essen oder trinken?”, fragte die Bedienung sehr zurückhaltend. Mouad glaubte, einen Hauch von Schärfe in Ihrer Stimme zu spüren. Er war sich aber nicht völlig sicher.
Ahmad besaß die besondere Gabe, dass er geringfügigste menschliche Verhaltensabweichungen registrieren konnte. Leiseste Lautungereimtheiten, die für die meisten normalen Menschen vermutlich nicht wahrnehmbar wären. Rasch beschlich Ahmad deshalb unterschwellig das Gefühl, dass er und Mouad gerade intensiv überwacht wurden - wenn es auch zunächst nur eine Vermutung war. Nach einer Weile war er sich jedoch vollkommen sicher: Diese Frau war definitiv dafür ausgebildet worden, die Blicke und die Verhaltensweisen von Menschen äußerst aufmerksam, aber zugleich auch sehr diskret, zu verfolgen. Und jetzt waren sie es, zwei harmlose junge Männer, die observiert wurden.
Mouad sah Ahmad immer wieder verstohlen von der Seite an. Denn auch ihm war die subjektiv gefühlte, intensive Supervision nicht entgangen. Er konnte einfach nicht begreifen, warum gerade ihnen gegenüber eine so große Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde.
Ahmad schätzte die ganze Situation inzwischen als ziemlich brenzlig ein. Er wünschte sich, dass sie sich einfach in Luft auflösen könnten und sich jegliche Erinnerungsspuren bei dieser Frau auslöschten. Innerlich schalt er sich einen Dummkopf: Wieso hatten sie überhaupt diese Lokalität dermaßen leichtsinnig aufgesucht? Mussten sie sich hier unbedingt an so zentraler Stelle in der Öffentlichkeit präsentieren?
Aber einfach aufstehen und gehen, würde auch keine Lösung sein - dass würde erst recht zusätzliche Aufmerksamkeit hervorrufen.
„Such dir was aus”, meinte Ahmad schließlich zu seinem Kommilitonen so ruhig wie möglich, um diesen nicht zu beunruhigen, „ich lade dich ein.”
„Vielen Dank, sehr nett von dir.”
„Ich hätte gerne ein Stück Feigen-Dattelcreme Torte und ein großes Glas schwarzen Tee - gesüßt bitte.”
„Das ist eine gute Wahl. Ich nehme das Gleiche.”
„Möchten Sie Sahne zum Kuchen?”, kam die höflich-distanzierte Frage.
Die Frau hatte sich diesmal völlig in ihrer Gewalt. Nicht die Spur von Misstrauen oder Verunsicherung war noch herauszuhören. Ahmads Unterbewusstsein übermittelte ihm dennoch weiterhin das Gefühl, dass der Situation auf keinen Fall Normalität innewohnte. Aus dieser prekären Situation heraus manifestierte sich in ihm die beunruhigende Erkenntnis, dass endgültig jeder jedem in diesem Staat misstraute, und dass in diesem Restaurant unter der Oberfläche von vorbildlichem Kundenservice möglicherweise ein - wenn auch winziges - Element eines weit gespannten Überwachungsnetzes installiert war. Das würde auch zu seiner politischen Einschätzung passen, dass religiös-konservative in- und ausländische Mächte in naher Zukunft, trotz aller nach außen zur Schau gestellten politischen Normalität, den relativ liberalen Zedernstaat vollständig unter ihre Knute zwingen wollten.
„Nein, danke”, kam es fast gleichzeitig von beiden zurück.
Die Kellnerin leitete die Bestellung weiter und wandte sich anderen Gästen zu.
Ahmads eine Gehirnhälfte beschäftigte sich immer noch damit, wie man aus dieser Situation, ohne all zu viel Aufsehen zu erregen, herauskommen könnte. Aber wie er die Lage auch drehte und wendete: Letztendlich blieb ihnen doch keine andere Wahl, als einfach sitzen zu bleiben.
,Schließlich weiß sie absolut nichts über mich’, versuchte er sich zu beruhigen.
Nach einer Weile nahm Mouad den Gesprächsfaden wieder auf: „Da wir uns gerade erst kennen gelernt haben, sollte jeder vielleicht ein bisschen von sich erzählen.” Ahmad nickte zustimmend. „Ich fang dann einfach mal an.”
Ahmads betrachtete Mouads Überlegungen durchaus zwiespältig: ,Der muss aber auch noch lernen, seine Umgebung und vor allen Dingen seine Mitmenschen sehr genau zu beobachten. Seine Gesprächigkeit könnte ihm noch zu einem späteren Zeitpunkt den Kopf kosten!’
Aber dann zwang er sich, den Ausführungen von Mouad seine Aufmerksamkeit zu schenken.
Mouad war 19 Jahre alt und lebte noch bei seinen Eltern in Alayh. Dieser Ort liegt hoch über Beirut und der Meeresbucht, die sich nördlich der Hauptstadt nach Osten erstreckt. Er hatte einen Bruder namens Elias, der ein Jahr jünger war als er und noch das Gymnasium in der zwölften Klasse besuchte. Sein Vater war Professor für experimentelle- und theoretische Physik, ebenfalls an der Amerikanischen Universität. Seine Mutter besaß einen kleinen Lebensmittelladen im Dorf. Ein Haus in diesem Ort gehörte ihnen zwar und war zudem schuldenfrei. Aber aufgrund der galoppierenden Inflation erhielt sein Vater seit einigen Jahren so wenig Gehalt, dass dieses allein nicht zum Leben reichte. Seine Mutter verdiente deutlich besser, da sich dank der vielen Flüchtlinge im Land der Vertrieb von Nahrungsmitteln rentierte. Darüber hinaus konnte sie die Produkte für den privaten täglichen Bedarf erheblich günstiger über den Großhandel und private Erzeuger vor Ort beziehen. Zusätzlich entlastete der Anbau von Obst und Gemüse im eigenen Garten das Budget der Familie erheblich.
Nur auf Grund dieser finanziell abgesicherten Lebensumstände konnte Mouad überhaupt studieren. Aber dies reichte bei weitem noch nicht aus: Es bedurfte der Fürsprache seines Vaters bei der Universität und eines mit mindestens 18 von 20 Punkten absolvierten Aufnahmetests, damit er an der AUB überhaupt beginnen konnte. Vier Stipendiensemester zur Erlangung des Masters, die er jedoch erst nach einem mindestens mit 17 Punkten benoteten Bachelorabschluss antreten durfte, waren eine zusätzliche Motivation für ihn, sich intensiv mit dem Studium auseinanderzusetzen. Ahmad merkte rasch, dass Mouad seine Eltern dank dieses Engagements ihm gegenüber sehr schätzte. Denn nicht viele libanesische Familien waren gegenüber einer so teuren und politisch kritischen Ausbildung für ihre Sprösslinge so aufgeschlossen. Hinzu kam, dass Mum und Dad für libanesische Verhältnisse ausgesprochen tolerant und weltoffen zu sein schienen.
Von beiden unbemerkt hatte sich die verschleierte Bedienung inzwischen erneut ihrem Tisch genähert und vorsichtig die bestellten Köstlichkeiten abgesetzt. Allmählich drang es in Ahmads Bewusstsein ein, dass, während er den Ausführungen Mouads gefolgt und ihn dabei beobachtet hatte, sich in seiner Umgebungswahrnehmung fortwährend ein schwarzer Schatten abzeichnete.
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