der schwer verletzte Leutnant Velaro. Jetzt endlich trauten sich
die Umstehenden heran. Alle palaverten wild durcheinander während
s ieimmer wieder klagend mit den Händen gestikulierten.
»Holt einen Medicus«, verlangte Aurelia schwer atmend, immer
noch benommen vom schrecklichen Geschehen. »Der Leutnant ist
verletzt, er muss sofort versorgt werden – schnell, schnell.«
Sie schob den Dolch, der sie auf so wundersame Weise gerettet
hatte, zurück in die Scheide. Dann beugte sie sich über den leichenblassen
Leutnant. Er war bewusstlos und röchelte leise, doch
sein Atem ging fast normal. Dank Neptun blutete er kaum, denn
das Messer, das ihm noch im Leib steckte, verschloss die Wunde
wie ein Pfropf.
Aurelia blickte auf den toten Magier hinab. Sie bückte sich und
hob den Schal von seinem Gesicht. Überrascht schaute sie genauer
hin. Jedoch es gab keinen Zweifel, es waren die Gesichtszüge einer
Frau. Der Mann war eine Frau gewesen, unzweifelhaft. Allerdings
war sie ihr vollkommen unbekannt. Mochte der S icherheitsdienst
von Joliko Gnorx herausfinden, wer die toten Angreifer waren oder
in wessen Auftrag sie handelten. Obwohl sie bereits die Ahnung
hatte, dass bei einer Untersuchung nicht viel herauskommen würde.
Als sie den Medicus heraneilen sah, erhob sie sich und machte
sich hastig auf, endlich ihr Schiff zu erreichen. An der Gangway
empfing sie i hrerster Offizier de’Soto.
»Was ist los, Käpt’n? Wir hörten von einem Tumult oder Überfall.
Doch genaueres konnte ich bisher nicht in Erfahrung bringen.«
»Viel hätte nicht gefehlt, de’Soto, dann hättet ihr das Kommando
über die Heilige Kuh übernehmen müssen. Ja, es gab einen
Überfall auf mich und meinen Begleiter. Wahrscheinlich sollten
mir die Gegenstände geraubt werden, die mir Agent Gnorx übergeben
hatte. Irgendjemand hat nicht dicht gehalten, denn sie wussten
genau, was sie wollten. Doch lasst mich zuerst an Bord, hier auf
dem Schiff fühle ich mich sicherer. Kommt in einer Stunde zu mir,
de’Soto, dann werde ich euch Genaueres mitteilen. Wir werden
beraten, wie wir weiter verfahren werden. Inzwischen fragt beim
Hafenamt nach, ob der Überfall gemeldet wurde und wie es dem
Leutnant Velaro geht. Vielleicht haben sie schon einen der geflüchteten
Halunken gefasst, was ich jedoch sehr bezweifeln möchte.
Noch eins, de’Soto, lasst eine Doppelwache an der Gangway aufstellen.
Niemand darf an Bord gelangen, der keine Erlaubnis von
mir oder euch erhalten hat.«
Zustimmend nickte de’Soto. Rasch führte er den Befehl des
Kapitäns aus, um sich anschließend selbst zum Hafenamt zu begeben …
Zeit:Gegenwart minus drei Jahre
Koordinate:Riva – Ladimara
Unterdessen erreichte e ine heimliche Nachricht das Hauptquartier
der Diebesgilde in Ladimara und ein Botenwiesel machte sich
mit einer wichtigen Mitteilung auf den Weg zum Hafenviertel, wo
es eine bestimmte Taverne aufsuchte. Einige Zeit später verließ ein
kleines Boot, besetzt mit drei Insassen, seinen Anlegeplatz. Es ruderte
aus dem Hafen hinaus und verschwand im Gewirr der vielen
Inselchen, die verstreut im großen Delta des gleichnamigen Ladimaraflusses
lagen. Dieses Labyrinth bildete ein ideales Versteck für zwielichtige Gestalten.
Die große Gestalt auf der Hinterbank des kleinen Ruderbootes,
auffällig mit ihrer Augenkappe und dem dunklen Dreispitz auf
dem Kopf, wusste nun Bescheid. Sie konnte in Erfahrung bringen,
wofür sie die schmuddelige Hafentaverne aufgesucht hatte. Auch
der hohe Betrag, den der Mann in Form von Juwelen auf den
schmierigen Tresen des diebischen Wirtes legen musste, sollte sich
mehr als auszahlen. In den nächsten Tagen, soviel war sicher, würde
es zu ungewöhnlichen Aktivitäten kommen. Die B eute, hinter der
er her war, befand sich in greifbarer Nähe. Der Kapitän dachte
nicht daran, sie den verhassten Rotröcken zu überlassen. Seine Informanten
hatten gute Arbeit geleistet, denn die erhaltene Mitteilung
stammte aus verlässlicher Quelle und war fast unbezahlbar.
Das kleine Beutelchen Juwelen war daher leicht zu verschmerzen.
Es würde seinen Einsatz mit einem unendlich wertvolleren Gegenstand
wieder einbringen. Der Pirat seufzte innerlich tief auf. Endlich
– endlich war der solang gesuchte Gegenstand in Reichweite.
Nun bedurfte es nur noch einer geschickten Aktion, um sich in
den Besitz eines der seltensten Artefakte zu setzen, die das Magische
Universum zu bieten hatte.
Zwei Stunden ruderten die beiden kräftigen Matrosen durch
das Labyrinth der verschlungenen Wasserwege, die sich durch das
weitläufige Delta des Ladimaraflusses schlängelten. Immer wieder
veränderte es mit dem Kommen und Gehen der Jahreszeiten sein
Antlitz. Dabei täuschte er selbst alteingesessene Anlieger mit ständig
wechselndem Aussehen.
Endlich umrundete das Boot eine winzige Insel, die kaum
sechshundert Quadratfuß groß über und über von dichtem Grün
bedeckt war. Als das Boot die stark bewaldete Spitze hinter sich
ließ, bot sich dem Auge des Piratenkapitäns ein imposantes Bild.
Eine mächtige Vie rmastfregatte lag mit gerefften Segeln vor Anker
und dümpelte leicht im Takt der Wellen. Stolz ragten ihre Masten
in die Höhe und ein goldfarbener Schriftzug am Bug des Rumpfes
verkündete ihren ruhmvollen Namen: Sternenteufel.
Der Mann im Ausguck hatte sie bereits erspäht. Heftig winkte
er mit der Fahne das Signal: ›An Bord alles klar‹. Kurze Zeit später
erreichte das Ruderboot das gut dreihundert Fuß lange Schiff und
ging Backbord längsseits. Ein bärtiges Gesicht schaute über die
Reling und rief:
»Aye, Käpt’n . Der Erste wollte schon einen Trupp losschicken,
um euch in der Stadt zu suchen. Hatte wohl Sorge, dass euch etwas
zugestoßen sei, Sire.« »Lasst das Fallreep runter, Labida . Gebt
Grimmbart Bescheid, dass ich wieder an Bord bin«, ordnete Stern
an, wobei er geschickt die herabgelassene Strickleiter hochkletterte.
Oben erwartete ihn bereits sein treuer Jirr Baa’thok , der als ständiger
Schatten immer in seiner Nähe weilte.
»Es tut gut, euch wieder zu sehen, Käpt’n, denn es beunruhigt
mich, wenn ich nicht an eurer Seite bin. Diese Stadt riecht nach
Unrat und nach Abschaum. Außerdem wimmelt sie von Halunken,
Dieben und Mördern. Ihr solltet mich bei solchen Ausflügen
besser mitnehmen.«
»Mein treuer Jirr, das nächste Mal seid ihr dabei. Aber ein
Ghurka fällt auf wie ein Rotrock unter Piraten. Ihr wisst doch –
ich durfte kein Aufsehen erregen, daher musste ich euch auf dem
Schiff lassen«, beruhigte Hieronymus St ern seinen Leibwächter.
»Zudem bin ich durchaus in der Lage, auf mich aufzupassen. Außerdem
waren doch Plattfuß und Blutige Hand bei mir, das reicht als
Begleitung aus. Wie ihr seht, sind wir wohlbehalten zurück.«
Jovial legte Stern dem Ghurka eine Hand auf die Schulter, wobei
er sich ein wenig strecken musste. Er drückte sie leicht als Ausdruck
der Anerkennung für seine geäußerte Sorge und Loyalität,
dann schritt er mit ihm zusammen zur Kapitänsmesse.
Der Ghurka überragte ihn um fast einen Kopf. Der raubtierähnliche
Schädel mit seiner leicht hervorstehenden Schnauze, in der die
dolchspitzen Zähne eher an ein Haifischgebiss erinnerten, wirkte
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