ein echtes Auge, eines der Wenigen, die jemals entdeckt wurden.«
Voller Stolz, so als wäre es seine eigene Schöpfung, betrachtete
Gnorx das faszinierende Objekt. Kurz war ihm der Gedanke durch
den Kopf geschossen, es für sich selbst zu behalten, doch dann
siegte die Vernunft. Der Rat würde einen Verlust nicht akzeptieren
und sein Leben wäre verwirkt, würde das Auge aus seiner Obhut
verschwinden. Außerdem war die Nutzung des Auges, soviel hatte
er in Erfahrung gebracht, an magische Vorgaben gebunden, die er
auf kei nen Fall erfüllen konnte. Und jeder noch so hohe Preis, den
er für dieses außergewöhnliche Objekt erzielen mochte, war sein
Leben nicht wert.
Denn nirgendwo würde er sich auf Dauer verstecken können.
Die Häscher des Tempelrats würden ihn aufspüren und sämtliche
Kopfgeldjäger des Arms wären hinter ihm her, um die hohe Belohnung,
die auf sein Ergreifen stehen musste, einzustreichen. Nein,
es war klüger die Gier zu unterdrücken. Irgendwann mochte sich
eine günstigere Gelegenheit mit einem weniger auffälligen Gegenstand
ergeben und dann würde er zugreifen. Aurelia bemerkte
seine Nachdenklichkeit und der gierige Blick, mit dem er das Auge
betrachtete, waren ihr nicht entgangen. Intuitiv erahnte sie seine
Gedanken, die für ein Mitglied des Tempels auch nicht abwegig
waren, denn Gier, Missgunst und Hunger nach Macht waren die
Triebfedern, von denen die Elite der Sekte besessen war. » Wahrhaftig,
ein sehr seltenes Artefakt«, bemerkte sie trocken und unterbrach
damit den Gedankenfluss des Agenten. »Könnt ihr mir sagen, wie ihr zu
dieser Kostbarkeit gekommen seid?«
Gnorx zögerte kurz, dann wischte er seine Bedenken beiseite.
Das meiste war schon längst Gesprächsstoff in den hiesigen Tavernen.
»Ich glaube, ich verrate kein Geheimnis, wenn ich euch sage,
dass ein Sternenfahrer vor einiger Zeit auf ein Wrack der Ghurka
stieß. Er war auf einer Route abseits der normalen Handelswege
unterwegs, auf der Suche nach neuen Märkten als er durch einen
unglaublichen Zufall eine ausgesaugte Lebensblase sichtete. Das
Schiff im Inneren wurde von einer großen Scilla überrascht und
ist bei dem Angriff zerstört worden. Die Besatzung hatte wohl
keine Zeit mehr gefunden, um zu fliehen und wurde getötet. Jedenfalls
fand sich kein Überlebender. Doch vor ihrem Untergang
wehrten sie sich noch verzweifelt und müssen der Scilla heftig zugesetzt
haben. Nach der Zerstörung des Schiffes ist der Astrokrake
verschwunden, ohne das Schiff komplett auszuplündern, wie es
normalerweise ihre Art ist. In den Überresten der Kapitänskajüte
fand der Sternenfahrer die Kiste mit den persönlichen Habseligkeiten
des Schiffsführers. Was er davon für sich behalten hat,
weiß ich nicht. Jedoch muss ihm das Sehende Auge wohl zu heiß für
ein Geschäft mit einem Hehler gewesen sein. Also hat er es mir,
dem bevollmächtigtem Agenten des Tempels auf Riva, angeboten.
Und natürlich habe ich zugegriffen, denn der Rat ist seit langer
Zeit auf der Suche nach einem solchen Auge. Es soll über sagenhafte
Fähigkeiten verfügen und alle Fragen beantworten können,
die man ihm stellt. Jedoch nur, wenn man weiß, wie seine Sperre
umgangen wird. Ansonsten bleibt es stumm oder, schlimmer noch,
tötet den Fragesteller auf grausame Weise.«
Nachdenklich runzelte Aurelia die Stirn. Sie hatte noch nie ein
Sehendes Auge zu Gesicht bekommen, dies war das Erste, das sie leibhaftig
vor sich liegen sah. Konnte es ihr bei der Suche nach ihrer
verschwundenen Tochter helfen? Doch ohne einen Magier, der
auch noch um die Zugangsmöglichkeit wissen musste, würde es
ihr nichts nutzen. Sie unterbrach ihre Überlegungen und richtete
ihr Augenmerk auf den nächsten Gegenstand.
»Um was handelt es sich bei den anderen Artefakten?«, fragte
sie den schweigsam gewordenen Agenten.
»Nun, ganz genau kann ich eure Frage nicht beantworten, Kapitän
Lethos«, erwiderte Gnorx beiläufig und wickelte dabei den Gegenstand
aus dem schwarzen Tuch, in dem er eingehüllt war. Zum
Vorschein kam eine Waffe. Augenscheinlich ein langer Dolch, der
sich in einer schlichten Scheide aus Holz befand, dessen Art ihr
unbekannt war. Der Knauf hatte sicherlich sechs Zoll Länge. Außerdem
war am Ende des Griffes ein großes grünes Juwel eingelassen.
Behutsam und vorsichtig zog der Agent den Dolch aus seiner
Schutzhülle. Dabei kamen zwölf Zoll eines silbergrau glänzenden
Metalls zum Vorschein. Die Klinge war beidseitig geschliffen und
mit einer nadelscharfen Spitze ausgestattet. Zusätzlich wies sie auf
beiden Seiten eine tiefe Blutrinne auf. In der Tat, eine wahrhaft
tödliche Waffe.
»Dieser Dolch wurde aus Obsidianerz gefertigt«, stellte Gnorx
nüchtern fest. »Ihr wisst, wie selten dieses Erz ist. Es wurde von
den alten Lemurern auf Naxos verarbeitet und de ren Schmiede
müssen auch diesen Dolch hergestellt haben. Er gehörte einem
der mächtigsten Magnate auf Riva und kam ihm …, nun ja, abhanden.
Allerdings war er nicht der eigentliche Eigentümer dieser
Waffe. Einst gehörte sie dem Herrscherhaus von Gondwana , dem
sie vor langer Zeit von einem Meisterdieb entwendet worden ist. Es
ranken sich viele Geschichten und Gerüchte um diesen Dolch, der
von seinem ehemaligen Besitzer Meuchling genannt wurde. Er muss
eine große Bedeutung für ihn gehabt haben, denn es wurde eine
sagenhaft hohe Belohnung für die Wiederbeschaffung ausgesetzt.
So hoch, dass der Meisterdieb, dem dieser Raub gelang, Gondwana
verließ und im Sternenmeer untertauchte. Wie der Dolch
am Ende nach Riva gekommen ist, weiß niemand zu sagen. Der
Tempel erfuhr von seiner Existenz und machte dem Magnaten ein
großzügiges Angebot. Dummerweise beging er den Fehler, es auszuschlagen.
Nun …, nicht viel später wurde ihm der Dolch leider
gestohlen und landete dann auf Umwegen bei mir. Eine wahrhaft
unglaubliche Geschichte, meint ihr nicht auch, Kapitän Lethos?«
Aurelia nickte und konnte sich gut vorstellen, wie die Diebe des
Tempels sich der Waffe bemächtigten ohne selbst in Verdacht zu
geraten. Was ihnen nicht freiwillig überlassen wurde, holten sich
die Rotröcke auf anderen Wegen. Man tat gut daran, nicht ins
Visier des Tempels zu geraten.
»Und was macht den Dolch zu einem interessanten Artefakt
für den Rat, abgesehen davon, dass er aus kostbaren Obsidianerz
besteht?«, versuchte Aurelia zu erfahren. »Nun Kapitän …, genau
dieses Geheimnis gedenken die Gelehrten des Rats zu lösen. Es ist
nicht genau bekannt, über welche magischen Eigenschaften dieser
Dolch verfügt. Das Wissen darum ist leider mit dem Tod des
Magnaten in seiner Gruft verschwunden. Ärgerlicherweise gab es
keine Aufzeichnungen darüber, jedenfalls wurden keine gefunden.
Dabei wird der Tempelrat, wie ihr euch denken könnt, kaum bei
den Königen von Gondwana nachfragen, was es mit dem Dolch
auf sich hat, denn dort sind wir leider nicht mit einer Niederlassung
vertreten. Dieses Volk betet bedauerlicherweise andere Götter
an und die Herrscher von Gondwana haben die Errichtung
einer Mission verboten. Aber, beim einzig wahren Gott Nantau,
der Tempel wird sie eines Tages zum richtigen Glauben führen.«
Der Agent sch na ubte wütend und schob die Waffe wieder in die
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