„Aber ist sie auch sicher?“ Beim Alten klang ein Schimmer aufkeimender Hoffnung mit.
Allmählich begann ich zu ahnen worum es ihm ging. „Dort, wo sie ist, sind alle sicher. Es gibt dort nichts wovor sie Angst haben müssten.“
Der Mann am Zaun blickte mit einem schwachen Lächeln wieder über den Garten und zum Haus. Es war ihm, als flögen altbekannte Bilder an ihm vorbei, als hörte er das Lachen spielender Kinder, das Klappern der Hufe von Kutschpferden oder das Sägen des Tischlers in der Werkstatt um die Ecke. Fahrradklingeln läuteten in seinen Ohren, ein paar Turmglocken in der Ferne schlugen die Zeit, und der Postmann schellte an der Tür, denn es gab einen Brief aus Übersee, von der Verwandtschaft aus Amerika. Aus einem geöffneten Fenster ertönte Klavierspiel, leicht holprige Versuche mit Schubert und Chopin. Ein Schornsteinfeger, mit Zylinder, Besen und Leiter, kam die Straße entlang. Eine Schaar von Kindern hatte ihn sofort umzingelt. Sie begannen fröhlich ein Lied zu singen: `Wer hat Angst vor dem Schwarzen Mann …´. Und ein wenig weiter, straßenabwärts, schob der Scherenschleifer gerade seinen Karren den steilen Hang hinauf. Er schwang seine in der Sonne glänzende Handglocke, denn man sollte wissen, dass er nun wieder da sei. Und nicht fern von ihm schlenderte, die Arme auf dem Rücken verschränkt, den Uniformkragen hochgeschlossenem, der Schutzmann. Auf seinem Kopf thronte eine schwarze Pickelhaube mit silbernen Beschlägen. Galant grüßte er mit einem kurzen Griff an seine Stirn so manchen ihm entgegenkommenden Bürger. Dann strich er sich gern noch den breiten Schnauzbart, ein wenig majestätisch, als Geste seiner Amtsgewalt.
Ein zweiter Kopf erschien am Zaun. Es war der von Frau Fiedler, der Tochter. Sie nickte mir kurz zur Begrüßung zu. „Verzeihen Sie, Herr Maler.“ sagte sie ein wenig außer Atem. „Er ist heute besonders schwierig. Und wenn ich mich nur kurz einmal umdrehe, ist er auch schon verschwunden.“
Ihr Vater schien wieder völlig abwesend zu sein. In sich gekehrt stand er wie angewurzelt am Zaun und blickte in die Ferne.
„Wer ist Isabella?“ fragte ich neugierig. „Er sprach gerade von ihr.“
Laura Fiedler setzte ein kurzes Lächeln auf. „Oh, Isabella. Ja, ich erinnere mich, aber das ist aber schon sehr lange her. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft meines Vaters. Als sie noch in Berlin lebten, vor dem Krieg.“
„Was ist mit ihr geschehen?“ fragte ich weiter.
„Das, was mit den meisten geschehen ist, die einen gelben Stern auf dem Ärmel trugen.“ antwortete Laura Fiedler trocken.
Ich hielt für einen Moment inne und schaute in das Gesicht des Alten. „Seltsam, dass er mich hier nach ihr gefragt hat.“ überlegte ich laut. „Es war mir so, als ob Isabella hier gewohnt hätte.“
„In seinem Kopf wirbeln die Ereignisse durcheinander, das ist der Grund.“ Laura sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, die mich fast erschrecken ließ. „Und heute ist es mal wieder besonders arg. Er springt binnen Sekunden von einem Jahrzehnt ins andere. Er steuert das natürlich nicht. Es ist sein Unterbewusstsein. Er sieht eine Fliege, und er glaubt gerade als Kind am Seeufer zu angeln. Drei Sekunden später sitzt er zitternd im Luftschutzkeller und hält sich die Ohren zu, weil er das Dröhnen der Bomber nicht mehr erträgt. Und nach einer Minute darauf lächelt er glücklich, weil ihm sein Hochzeitswalzer im Ohr zu klingen begonnen hat. Dann tanzt er sogar, glaubt meine Mutter im Arm zu halten, küsst grotesk in die Luft. Wie gesagt, das alles in der Abfolge von wenigen Minuten. Er durchlebt in solchen Phasen die unterschiedlichsten Szenen seines Lebens. Unaufhörlich. Ein Martyrium.“
Ich wusste darauf nichts zu erwidern. Wie sollte ich auch. Wie ungleich erschien mir das Schicksal meines eigenen Vaters. Er, der er vielleicht bislang noch ein wenig klarer im Kopf geblieben war, sich aber deshalb grämte, seine Erinnerungen als Dämonen betrachtete, weil sie ihm doch wie ein Mahnmal seines nahen Ablebens so schmerzlich in der Seele brannten. Wer von beiden hatte es denn nun besser? Gab es in diesem Vergleich überhaupt ein `Besser´ oder `Schlechter´?
Laura Fiedler wandte sich zum Gehen. „Ich werde es wohl kaum verhindern können, dass er nicht hin und wieder hier bei Ihnen am Zaun erscheint.“
„Machen Sie sich darüber keine Gedanken.“ erwiderte ich sofort. „Ich fühle mich mitnichten gestört.“ Ein kleiner Gedanke flog mir nun durch den Kopf. „Ebenso hoffe ich, dass Sie sich durch meine Anwesenheit in diesem Haus nicht gestört fühlen.“
Laura Fiedler begann zu lachen. Und es war ein sehr schönes Lachen, ein wenig zauberhaft sogar, und ihre Augen blitzten mich freundlich an. „Da hat die verehrte Frau Metzger also bereits schon ihr Gift gespritzt. Aber machen Sie sich diesbezüglich keine Sorgen. Es sind ganz bestimmt nicht die Bewohner der Appartements, um die es geht. Die können nichts für die vermeintliche Eigentümerin, die an sie vermietet. Und eigentlich …“ fügte sie hinzu, „finde ich es durchaus ganz angenehm, wenn nette Nachbarn zugegen sind.“
„Da bin ich wirklich froh.“ bekundete ich, und war ehrlich ein wenig erleichtert. Ich wollte aber noch zu einem Punkt nachhaken: „Aber wieso `vermeintliche´ Eigentümerin?“ Das war mir doch sofort aufgefallen und hatte mein Interesse geweckt.
Laura Fiedler lächelte immer noch. „Das müssen Sie schon alleine herausfinden. Und ich bin sicher, dass Sie nicht allzu lange dazu brauchen.“
Sie winkte mir noch kurz zu, dann hakte sie ihren Vater unter und führte ihn behutsam weg vom Zaun, zurück in ihr Haus.
Mein Telefon klingelte. Rontrop von Welfenbein, eigentlich ja Kurt Kaiser, war am anderen Ende der Leitung. Er stünde gerade vor einem kleinen Appartementhaus in der Bäckerallee und fragte sich, ob es wohl das Haus sei, in das ich gerade vorübergehend eingezogen war.
Ich lief vom Garten auf die Straße. Mein neuer Kumpan saß auf einem schnittigen Rennrad, trug die passende schenkellange Radfahrerhose und einen schon etwas lädiert aussehenden Helm, den er schräg nach hinten in Richtung seines Hinterkopfes geschoben hatte. Seine langen grauen Haare zeigten deutliche Schweißspuren, aber seine Wangen hatten rosa Farbe angenommen und seine blauen Augen blitzten mich lustig und aufmunternd an.
„War gerade in der Gegend.“ rief er mir zu. „Und da dachte ich, dass ich mal sehe, ob Du uns gestern nicht noch einen Bären aufgebunden hast.“ Er stieg vom Rad ab, was ihm ganz offensichtlich keinerlei Mühe bereitete, obwohl es eindeutig war, dass die Größe seines Drahtesels nicht zu seinen geringen Körpermaßen passte. „Bin ich hier richtig, in Entenhausen?“
Dann blickte er auf das kleine Haus und nickte. „Habe ich´s mir doch gedacht.“ sagte er etwas kryptisch und lächelte mich wissend an. „Ich denke, dass ich auch Deine Vermieterin kenne, zumindest vom Hörensagen.“
„Das wird ja immer spannender!“ bekundete ich. Doch so richtig amüsant wollte ich das nicht finden. „In mir macht sich allmählich das Gefühl breit, dass mit dem Gebäude etwas faul ist.“
„So kann man es ausdrücken.“ grinste Rontrop mich unverhohlen an. „Hast Du ein Bier in Deinem Kühlschrank?“
„Nur eine halbgekühlte Flasche Champagner.“ antwortete ich.
„Sehe ich aus wie Bodo?! Die kannst Du alleine trinken.“ rief er mir sofort zu. „Als Prolet brauche ich jetzt ein kühles Bier. Für Champagner ist es zu früh. Die Nutten pennen alle noch.“
„Auch wenn sie wach wären, hättest Du keine Chance. Derlei Damen schauen auf Kunden mit Fahrradklammern an den Hosen verächtlich herab. Mit oder ohne Champagner.“ erwiderte ich ihm. „Was machen wir nun?“
Wir beschlossen, gemeinsam den kurzen Weg bis in die Innenstadt zu nehmen und uns dort in das Bistro zu setzen, in dem wir uns kennengelernt haben. Ich schloss schnell das Appartement ab, und schon gingen wir die Bäckerallee hinab, wobei mein Begleiter sich schräg auf die Stange seines Fahrrades setzte und mit wiederkehrendem Quietschen seiner Bremsen hinunterrollte. Als wir am Ende der Straße um die Ecke in Richtung der Innenstadt gelangten, kamen wir an einem Biergarten vorbei, der, ein wenig höher gelegen, unter schattenspendenden Kastanien angelegt war. Ich war erfreut diesen durchaus schönen Ort so unvermutet entdeckt zu haben, und ich machte Rontrop das Angebot, dass wir uns doch zu einem ersten Bier gleich hier einmal niederlassen sollten.
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