Ebenso ausgeschlossen war es für sie, ihren Freund Benjamin einzuweihen. Er würde ihr technisch kaum helfen können, da seine Fähigkeiten am Computer nicht größer als ihre eigenen waren. Und zudem hätte sie viel zu große Angst vor den Folgen für ihn und für die gemeinsame Beziehung haben müssen, denn die Kenntnis von der Existenz der Fotos und das Wissen darüber, dass sie in fremden Händen lagen, würden Benjamin furchtbar schwer treffen. Nina konnte nicht einschätzen, wie er reagieren würde.
„Außerdem kommt er erst am übernächsten Wochenende aus Melbourne zurück“, griff sie auf die geborene Rechtfertigung dafür zurück, den Lebensgefährten in dieser intimen Angelegenheit unwissend zu lassen.
Wenn sie jedoch keine Unterstützung suchte, ganz auf sich allein gestellt blieb, waren ihre Chancen auf eine Änderung der Situation momentan gleich null. Gab es überhaupt einen Ausweg?
Unvermittelt kam ihr ein Gedanke, der sowohl ein Quäntchen Hoffnung als auch zugleich eine strikte innere Ablehnung auslöste.
„Ob ich wohl Alex um Hilfe bitten kann?“
Bis vor etwa zwei Jahren war sie mit ihm liiert gewesen. Sie hatten sogar zusammen gelebt, dann aber festgestellt, dass sie wohl doch nicht für ein dauerhaftes Zusammensein geschaffen waren und sich getrennt. Trotz der einvernehmlichen Trennung auf der persönlichen Ebene, oder vielleicht auch gerade deswegen, war es zu heftigen Streitereien bei der Aufteilung des gemeinsam beschafften Hausstandes gekommen. So war nach dem Auseinandergehen nicht einmal mehr eine Freundschaft zurück geblieben. Alex aber war schon damals ein großer Computerfachmann gewesen, hatte in einer kleinen, wie er sich immer ausgedrückt hatte, Softwareschmiede als Programmierer gearbeitet. Ihm traute sie zu, ihr aus der Not heraus helfen zu können. Trotz der inzwischen vergangenen Jahre empfand sie es als weniger entehrend, wenn er die Fotos von ihr zu sehen bekommen sollte als wenn es hierzu durch Fremde kommen würde. Er hatte damals ohnehin Intimstes zu Gesicht bekommen.
„Nein, wie konnte ich nur auf diese dumme Idee kommen?“, verwarf sie den Gedanken wieder. „Wahrscheinlich würde mir Alex ohnehin nur einen Korb geben. Jetzt vielleicht auch noch mit ihm wieder Stress bekommen? Nein, kein Bedarf, basta! Und außerdem: Kann ich denn die Skrupel über Bord werfen, Benjamin die Angelegenheit zu verschweigen, mich meinem Ex jedoch anzuvertrauen? Nein, keinesfalls!“
Sie nahm das örtliche Fernsprechverzeichnis zur Hand. In völligem Widerspruch zu ihrer Entscheidung suchte sie nach Alexanders Telefonnummer.
„Warum muss er denn auch gerade Schröder heißen?“, haderte sie. „Davon gibt es doch nun wirklich auch ohne ihn bereits genug.“
Sie fuhr mit dem Zeigefinger die Reihe der Einträge unter dem Namen Schröder auf der Suche nach den mit dem Buchstaben „A“ beginnenden Vornamen ab.
„Da ist er ja, ganz weit vorn, Schröder, Alexander“, freute sie sich.
Den Daumen unter der Rufnummer hielt sie das Telefonbuch in der linken Hand. Mit dem Daumen der rechten Hand tippte sie die Ziffern in das Mobilteil, während sie den Blick zwischen dem Verzeichnis und der Tastatur des Telefons hin und her wandern ließ.
„Ich kann es ja mal versuchen“, dachte sie und versuchte sich ein wenig auch vor sich selbst zu rechtfertigen. „Ich kann ja auch sofort auflegen, wenn er mir dumm kommt.“
„Schröder“, kam es aus der Leitung.
„Ich bin´s, Alex, Nina“, gab sie sich nach kurzem Zögern zu erkennen, um dann schluchzend zu ergänzen: „Alex, kannst du mir helfen? Ich brauche deine Hilfe!“
Sie war der Anspannung nicht länger gewachsen.
Gerade erst hatte sie ihren Zusammenbruch überwunden, der während des Telefonats mit Alex über sie gekommen war, und sich von ihrem Ex-Lebensgefährten verabschiedet, als ihr Telefon läutete.
Sie schrak zusammen. Wann würde der Zeitpunkt gekommen sein, dass sie ein Gespräch wieder ganz unbefangen entgegen nehmen konnte, ganz ohne das Hoffen und Bangen um die Person des Anrufers?
Sie ließ den Anrufer zwei, drei Rufzeichen lang warten, ehe sie abnahm und sich meldete.
„Ich bin´s, Ben“, freute sie sich ihren Freund durch das Telefon sprechen zu hören.
„Ist irgend etwas?“, schloss er eine misstrauische Frage an.
„Nein, warum?“
„Du klingst so seltsam.“
„Es ist alles in Ordnung. Ich war nur gerade eingenickt und habe mich deshalb vielleicht etwas verschlafen gemeldet“, log Nina.
„Schön, dass du anrufst! Ich hatte schon gewartet“, versuchte sie das Gespräch in übliche Bahnen zu führen.
Benjamin schien beruhigt zu sein und keine Zweifel zu hegen.
„Es tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melden kann! Es ging nicht früher. Du fehlst mir!“
Es tat gut, Ben´s Stimme zu hören, und es tat gut, von ihm auf diese Weise seine Liebe erklärt zu bekommen.
„Du fehlst mir auch“, gab sie in dem Bemühen zurück, sich auch weiterhin nichts anmerken zu lassen. Sie wusste nicht, ob es ihr noch lange gelingen würde, Benjamin etwas vorzuspielen. Sie fürchtete, dass sie der Situation nicht mehr lange gewachsen sein würde, ihr schlechtes Gewissen sie in Tränen ausbrechen lassen würde.
„Ben, ich hatte einen ganz anstrengenden Tag und bin wirklich sehr müde“, versuchte sie das Gespräch zu beenden. „Ich möchte jetzt gleich ins Bett gehen. Bist du mir böse, wenn ich nicht länger telefonieren möchte?“
Für einen kurzen Moment blieb es still in der Leitung.
„Nein, ich bin nicht böse, natürlich nicht“, kam es dann zurück. „Du willst schon so früh zu Bett gehen? Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“
„Ja, wirklich“, knüpfte sie weiter an ihren Lügenstricken. „Mach dir keine Sorgen, es ist wirklich alles in Ordnung. Ich bin wirklich nur sehr müde.“
„Okay, mein Schatz, dann schlaf gut! Morgen versuche ich dich wieder anzurufen. Ich liebe dich!“
„Ich liebe dich auch! Schlaf gut, bis morgen!“
„Hallo Nina!“
Alex stand vor der Tür und begrüßte seine ehemalige Lebensgefährtin, als sei er nur für ein paar Tage fort gewesen.
Nina sah ihn für einen Moment einfach nur an, dann lächelte sie erleichtert.
„Danke Alex! Danke, dass du gekommen bist, so kurzfristig heute Abend!“
Sie ging auf ihn zu und umarmte ihn freundschaftlich.
Alex erwiderte ihre Umarmung und legte dann seine Hände auf ihre Schultern, während sie sich so weit von ihm löste, dass sie auf eine Armlänge auseinander standen.
„Gut siehst du aus“, schmeichelte er.
Nina lächelte kurz, sah verlegen auf den Boden und, mit einer schwungvollen Bewegung ihres Kopfes, dann wieder in sein Gesicht.
„Nun komm schon rein, Lügner! Du warst doch früher nicht so schnulzig!“, gab sie kokettierend zurück.
„Ich bin auch heute nicht schnulzig, nur unbeholfen vielleicht. Hättest du ein Patentrezept für eine Wiederbegegnung dieser Art gehabt, wenn du ich wärst?“
„Komm bitte mit durch!“, blieb sie Alex eine Antwort auf seine Frage schuldig.
Während sie ihn in die Wohnung führte, kam sie jedoch wieder darauf zurück.
„Wenn jemand von uns beiden einen Grund hat, unbeholfen zu sein, dann bin ich es. Nebenbei bemerkt wäre ich froh, wenn es nur Unbeholfenheit wäre, mit der ich zu kämpfen habe“, deutete sie ihre eigentlichen Probleme an.
„Ein gemütliches Zuhause hast du“, stellte Alex anerkennend fest, als er ihr Wohnzimmer betrat. Er hatte seine Blicke mit echtem Interesse umher schweifen lassen und sah sich nun auch im Wohnzimmer unverhohlen um.
„Es freut mich, dass es dir gefällt“, lächelte Nina. „Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du gleich gekommen bist und mir hilfst, Alex!“
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