Mit dem Vermögen seiner Frau im Hintergrund konnte es sich Nostradamus leisten, seinen Neigungen nachzugehen, oder wie man heute sagen würde, seinen Hobbys zu frönen. Er begann zu schreiben, u.a. eine Abhandlung über Kosmetika und Konfitüren („Traicté des fardemens et confitures“) sowie seine berühmten Almanache [3]. Nostradamus beteiligte sich auch finanziell am Bau eines Kanals, den der Baumeister Adam de Craponne im August 1554 in Angriff nahm. Dieser Kanal, den es noch heute gibt und der Rhone und Durance verbindet, sollte neben einer besseren Verkehrserschließung der Großen Crau das dringend benötigte Wasser zuführen.
Zu Adel und Prominenz der Stadt Salon hatte Nostradamus anscheinend gute Kontakte, während ihm das einfache Volk eher ablehnend gegenüberstand. Jedenfalls beklagte sich Nostradamus im „Traicté des fardemens et confitures“, dass er unter „stumpfsinnigen Tieren, rohen Menschen, Todfeinden der Gelehrsamkeit und des Schrifttums“ leben müsse. Diese wiederum verdächtigten Nostradamus als Hexenmeister und heimlichen Hugenotten [4]. Dies mag auf seine Verbindungen zum Landadel zurückzuführen gewesen sein, dem die Ideen der Reformation zupass kamen, um sich vom katholischen Königtum abzugrenzen und seine Selbständigkeit zu betonen. Mit seinem Verdacht, Nostradamus sei ein heimlicher Hugenotte, hatte das einfache Volk so Unrecht nicht, denn in zwei seiner Verse zeigte er recht deutlich Sympathie für die Reformation.
VI.15
Dessoubz la tombe sera trouvé le prince,
Qu’aura le pris par dessus Nuremberg:
L’Espaignol Roy en Capricorne mince,
Fainct et trahy par le grand Vvitemberg.
Im Grab wird der Fürst gefunden,
der den Preis über Nürnberg bekommt.
Der spanische König im Steinbock klein,
getäuscht und verraten von dem großen Vvitemberg.
Ein interessantes Wort ist Vvitemberg am Ende des Verses. Wenn man ein W als doppeltes V ansieht, dann wird Vvitemberg zu Witemberg , was Wittenberg sehr nahe kommt. In Wittenberg lehrte Martin Luther an der Universität und dort verfasste er auch seine berühmten Thesen. Dass Nostradamus Luther le grand Vvitemberg nennt, zeigt, dass er insgeheim mit Luther sympathisierte.
Luther wurde von Karl V., dem 1516 im Wege der Erbfolge Spanien zugefallen war (daher spanischer König ), in dem beim Reichstag zu Worms 1521 verfassten so genannten „Wormser Edikt“ geächtet. Dennoch wurde Wittenberg zum Zentrum der Reformation, die sich weiter ausbreitete, nicht zuletzt mit Unterstützung verschiedener Landesherren, die dem neuen Bekenntnis aufgeschlossen gegenüberstanden. Karl V. musste schließlich 1532 den Nürnberger Religionsfrieden gewähren, damit er von den evangelischen Reichsständen Hilfe gegen die Türken bekam. [5]Die dritte und vierte Zeile wären in diesem Fall keine Vorhersage, sondern eine Rückschau, die allerdings notwendig ist, um die ersten beiden Zeilen zu verstehen.
Capricorne in der dritten Zeile ist eine verschlüsselte Zeitangabe, die auf den Zeitraum zwischen dem 19. Januar und dem 16. Februar hinweist. Luther verbrannte im Dezember 1520 die Bulle „Exsurge Domini“, die Papst Leo X. am 15. Juni 1520 gegen ihn erlassen hatte. Da Luther nicht widerrief, exkommunizierte ihn der Papst durch eine weitere Bulle („Decet Romanum Pontificem“). Durch persönlichen Einfluss erreichte Kurfürst Friedrich der Weise, dass Luther seine Position vor dem nächsten Reichstag noch einmal erläutern und verteidigen durfte. Diese Vorgänge fielen in den Zeitraum zwischen 19. Januar und 16. Februar 1521.
Bei Nürnberg bezog 1632 das schwedische Heer unter dem Kommando von König Gustav Adolf II. Stellung. Nicht weit entfernt, rund um die „Alte Veste“ bei Zirndorf westlich von Fürth, befand sich das Feldlager von Wallensteins Heer. Es kam jedoch nicht zum Treffen, sondern beide Heere zogen auf getrennten Wegen nach Nordosten und erst bei Lützen kam es zur Schlacht, in der Gustav Adolf fiel. Die beiden ersten Zeilen prophezeien Gustav Adolfs Tod, wobei die zweite Zeile folgendermaßen zu lesen ist: „der Nürnberg einnimmt“ , denn pris ( e ) bedeutet unter anderem Einnahme, Eroberung .
II.64
Seicher de faim, de soif gent Genevoise
Espoir prochain viendra au defaillir,
Sur point tremblant sera loy Gebenoise.
Classe au grand port ne se peult acuilir.
Ausgetrocknet vom Hunger, vom Durst Genfer [6]Leute.
Nahende Hoffnung schwindet.
Dabei erbebt der Cevennen Gesetz.
Flotte kann im großen Hafen nicht aufgenommen werden.
Die Genfer Leute sind die Calvinisten, da Genf ein Zentrum der Reformation war. Dort wirkte der aus Noyon in Nordfrankreich stammende Jean Cauvin, besser bekannt als Johann Calvin. 1541 entstand die Genfer Kirchenordnung. Genf wurde schließlich zum führenden Zentrum der protestantischen Welt.
Die erste Zeile hat mit tatsächlichem Hunger und Durst nichts zu tun, sondern ist eine Anspielung auf die Bergpredigt: „Selig sind, die Hunger und Durst haben nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden.“ [7]
Gebenoise in der dritten Zeile ist vom lateinischen Gebenna abgeleitet, das auch Cebenna geschrieben wird. Gemeint sind die Cevennen in Südfrankreich, die in den von Hugenotten dominierten Gebieten lagen. Sie stehen hier stellvertretend für alle hugenottischen Gebiete Frankreichs. Mit dem Edikt von Nantes gewährte Heinrich IV. im Jahre 1598 den Hugenotten Gewissensfreiheit, beschränkte Kultausübung, politische Gleichberechtigung und Sicherheitsplätze. Nicht einmal hundert Jahre später strebte Ludwig XIV. die Aufhebung des Edikts von Nantes an. Um 1680 begann die gewaltsame Konvertierung mit der Einquartierung von Soldaten in die Häuser der Hugenotten. Als Ludwig XIV. am 18. Oktober 1685 in Fontainebleau das Edikt von Nantes widerrief, waren bereits viele Hugenotten zum katholischen Glauben übergetreten. Trotz des im Revokationsedikt ausgesprochenen Verbotes verließ etwa eine halbe Million Hugenotten Frankreich, unter ihnen befanden sich viele Spezialisten aus technischen, kaufmännischen und handwerklichen Berufen. Dieser Aderlass hatte verheerende Folgen für die Wirtschaftskraft des Landes. Ungeachtet der Diskriminierung hielten sich auch in Frankreich weiter Hugenotten, wie die in den Cevennen lebenden Camisarden, die 1702 einen Aufstand gegen Ludwigs Regime wagten.
Nachdem sich die dritte Zeile eindeutig auf den Camisardenaufstand von 1702 bezieht, könnte auch die vierte Zeile in dieser Zeit handeln. Seit 1701 tobte der Spanische Erbfolgekrieg, bei dem es auch zu zahlreichen Aktionen zur See kam. Eine der bedeutenderen Aktionen war im Jahre 1702 der gescheiterte Versuch des englischen Admirals Sir George Rooke, den Hafen von Cadiz in Spanien einzunehmen.
Am 4. Mai 1555 erschien bei Macé Bonhomme in Lyon der erste Teil der Schrift, die Nostradamus weit über die Grenzen der Provence und Frankreichs hinaus bekannt (und berühmt) machen sollte. Die Erstausgabe trug den Titel „Les propheties de M. Michel Nostradamus“ und enthielt neben dem an Nostradamus’ Sohn César gerichteten Vorwort 353 vierzeilige Verse mit Prophezeiungen.
Offenbar hatten die „Propheties“ das Interesse Katharinas von Medici geweckt, die ihren Gemahl, König Heinrich II. überredete, Nostradamus an den Hof einzubestellen. Die Vorladung übermittelte der Gouverneur der Provence, Claudius von Savoyen, Graf von Tende.
Am 14. Juli 1556 verließ Nostradamus Salon, vermutlich mit gemischten Gefühlen, denn der Chronist von Lyon berichtete über Nostradamus’ Durchreise und dessen Befürchtung, dass man ihm am Königshof übel mitzuspielen könnte und er in großer Gefahr sei, „dass man ihm dort noch vor dem 25. August den Kopf abschlagen würde, wegen Dingen, die er gesagt hätte.“ [8]
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