Die Tür schwang auf, sofort spürte er die würzige Wärme des Sommermorgens, die ihm entgegenströmte. Hell ließ die Augenlider sinken und atmete tief durch. Die anderen Wohnmobile lagen noch ebenso still da. Als einziges Geräusch drang das Schnurcheln der Kaffeemaschine an sein Ohr, die das Wasser ansaugte und auf das Kaffeemehl pumpte. Aber es störte ihn nicht, ganz im Gegenteil, dieses Geräusch versprach einen starken Kaffee zum Frühstück. Fehlten nur noch die frischen Brötchen.
Hast du einen Bäcker gesehen auf der Hinfahrt, fragte er sich.
Aber ein Blick auf die noch gut gefüllte Brotkiste verriet ihm, dass es noch mehr als genug Brot gab. Entwarnung.
Er wurde erst von einem leisen Knarzen aus seinen Träumen geholt, die mittlerweile verstummte Kaffeemaschine hatte er überhört. Das Knarzen deutete darauf hin, dass Franziska die kleinen Stufen hinunterschritt.
»Hmh, Kaffee, du bist ein Schatz, Oliver«, sagte sie und schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Soll ich draußen für uns decken?«
»Hmh, gerne«, antwortete sie noch verschlafen. Hell verspürte plötzlich einen Riesenhunger, sputete sich, um die Möbel draußen wieder aufzustellen. Der Tisch war schnell gedeckt, der Kaffee in die Thermoskanne gefüllt. Hell hielt schon die erste Tasse in seiner Hand, als Franziska aus dem WoMo trat. Sofort begannen sie mit der Planung für diesen Tag. Sie musste allerdings erst eine Tasse Kaffee trinken, bevor sie Hells Gedanken wirklich folgen konnte.
»Wollen wir auf der Autobahn bleiben oder fahren wir doch lieber rüber an den Strand?«
»Rüber an den Strand? Ist schon ein Stück bis dahin.«
»Kennst du dich dort an der nördlichen Nordsee aus?«, fragte sie nachdenklich.
»Nicht wirklich. In Husum war ich mal, als ich noch Kind war, aber die Erinnerung ist einfach zu verschwommen. Aber vielleicht kommt sie ja wieder, wer weiß das schon? Außerdem kann man ja auch Bekanntes neu entdecken.«
»Es fragt sich, ob wir schnell nach Hvide Sande kommen wollen, um Stephanie und Sylvia nicht zu lange warten zu lassen. Sie freuen sich doch auf uns.«
Hell blickte zu ihr herüber, genauso unschlüssig wie sie auch.
Schließlich sagte er nur: »Als weißer Fleck bleibt aber immer wieder die »nördliche deutsche Nordseeküste«, von der ich noch nichts kenne.«
Franziska stand auf und kam mit dem Wohnmobilführer zurück. Sie begann, konzentriert zu lesen.
»Okay«, antwortete sie, »Wenn wir nicht Autobahn fahren wollen … dann können wir ja wirklich mal an der Küste hochfahren. Ich dachte an das kleine Fischerstädtchen Husum, wenn du sagst, dass du dort schon einmal warst. Vielleicht passt es zeitlich, um dort zur Mittagszeit ein leckeres Fischbrötchen zu essen.«
Sie fanden, das sollte als erste Orientierung auch ausreichen. Der Reiseführer hatte für diesen Tag seine Schuldigkeit getan.
Von Husum aus würden sie dann später die Landstraße B5 über Bredstedt, Klixbüll und Süderlügum nutzen, um etwas weiter nördlich dann die Grenze zu Dänemark zu überschreiten.
»Dann sehen wir auch was von Land und Leute und müssen uns nicht mit der monotonen Autobahn begnügen«, sagte Franziska und damit war das Thema Tagesroute erledigt. Stephanie würde dann ein paar Stündchen später mit ihrer Ankunft rechnen müssen.
*
Hvide Sande
An der Tür zum Laden von Kjell Kloft hing ein Schild, auf dem stand: »Wegen einer betrieblichen Veranstaltung öffnen wir heute erst um zehn Uhr.«
Die Einwohner von Hvide Sande waren ganz andere Zeiten gewöhnt, denn Kjell stand meist über zwölf Stunden in seinem Laden. Von sieben Uhr morgens bis manchmal acht Uhr abends. Selbst wenn er das Schild, auf dem ‚Geschlossen‘ stand, bereits im Fenster hängen hatte, sollte wirklich noch jemand an die Scheibe klopfen, weil er noch etwas dringend benötigte, Kjell Kloft würde ihm seine Ladentür geöffnet haben. Er nannte es Kundenservice, viele hielten es mittlerweile für ein unumstößliches Gewohnheitsrecht.
Kjell Kloft gehörte zu einer alteingesessenen Kaufmannsfamilie und das Geschäft betrieb er jetzt in dritter Generation. Er hatte bei seinem Vater die Lehre gemacht, ebenso wie dieser bei seinem Vater sein Handwerk gelernt hatte. Daher kannte Kloft jeden Winkel in seinem Laden und jeder kannte ihn.
Diesen Morgen allerdings musste er sich doch die eine oder andere Beschwerde anhören. Was das denn für eine betriebliche Veranstaltung gewesen sei und warum er das nicht schon am Vortag bekannt gegeben hätte.
»Nein, Kjell, das hätte es bei deinem Vater nicht gegeben. Der hatte immer pünktlich seinen Laden offen, Sommer wie Winter. Selbst wenn er sterbenskrank war, er stand immer hinter der Theke, zusammen mit deiner Mutter«, sagte seine treue Stammkundin, die alte Dorflehrerin Anna Rasmussen, völlig entrüstet mit einer für ihr gütiges Gesicht kaum zu vermutenden Zornesfalte auf ihrer Stirn.
»Ich habe mich da etwas seltsam ausgedrückt auf dem Schild«, räumte Kloft ein, um sie wieder gütlich zu stimmen. Nicht nur er, auch viele seiner Altersgenossen hatten bei ihr die Schulbank gedrückt. Sie kannte ihn sogar schon, als er noch in die Windeln geschissen hatte. Ihr Mann, der sich schon vor einem Jahrzehnt nach einem Herzinfarkt, den er mitten auf einem Zebrastreifen erlitt, aus dem Staub gemacht hatte, war ein guter Freund seines Vaters gewesen. Sie waren ebenfalls zusammen aufgewachsen, teilten später auch die Vorliebe für schöne Frauen und waren bis zu einem gewissen Zeitpunkt die begehrtesten Junggesellen im Ort gewesen. Als Torben Kloft Kjells Mutter heiratete, befiel seinen Freund Ole Rasmussen eine völlig unverständliche Torschlusspanik. Nach kurzer Zeit ehelichte er Anna Bering, die sich selbst am meisten darüber wunderte, dass sie plötzlich eine Rasmussen war. Neben ihren schönen Vorgängerinnen sah sie im Vergleich eher weniger aufregend aus. Eine spitze Nase über einem schmalen Mündchen, aus dem selbst bei größtem Zorn über ihre dickfelligen oder begriffsstutzigen Schüler nie ein wirklich böses Wort kam.
»Mein Junge«, sagte sie und die Zornesfalte wich wieder aus dem faltigen Antlitz der alten Dame, »du solltest dir mal eine Frau zulegen. Die könnte dann den Laden aufhalten, wenn du mal was anderes zu erledigen hast. Wäre das keine Idee?«
Kloft musste lachen. Diesen guten Ratschlag bekam er jedes Mal, bevor Frau Rasmussen seinen Laden wieder verließ. Also mindestens alle drei Tage, Wochenende inklusive wenn er sie auf der Straße traf. Jetzt schaute er auf ihr gespitztes, kleines Mündchen und sagte das, was er immer antwortete: »Liebe Frau Rasmussen, die Frau, die es an meiner Seite aushält, die muss erst noch gebacken werden.«
»Ach Junge, alle deine Klassenkameraden sind mittlerweile verheiratet, naja, nur der dumme Kaare nicht. Dabei bist du doch so ein fescher Kerl«, sagte sie und spielte damit auf einen der beiden Dorfpolizisten, Kaare Knudsen, an. Den hatte sie schon als Schüler nicht gemocht und sie pflegte immer zu sagen, dass ja nun anscheinend jeder Polizist werden konnte, wenn man sie darauf ansprach. Öffentlich sagte sie das nie, immerhin war er ja Polizist, auch wenn sie ihm jegliche profunden Kenntnisse zur Ausführung dieses Berufes absprach.
»Wenn man schon Schwierigkeiten mit dem großen Einmaleins hat, wie kann so einer Polizist sein?« Diese kühne Aussage hatte sie einmal ihrer besten Freundin gegenüber gemacht, und sie konnte sicher sein, dass dieses Geheimnis für immer sicher war. Spätestens seit deren Tod vor ein paar Monaten.
»Ich hatte immer gedacht, dass ich es noch erlebe, wenn du heiratest«, sagte sie und ging kopfschüttelnd aus dem Laden. Das kleine Glöckchen über der Türe bimmelte mehrmals leise, als die Türe zuschlug.
Kloft mochte seine alte Lehrerin, aber wie hätte er ihr gestehen können, was der wahre Grund für die verspätete Öffnung des Ladens war?
Читать дальше