Die in Kapitel I geschilderte Leidensgeschichte des Protagonisten Hahnemann ist bis zu jenem Montagmittag, an dem ich ins Gefängniskrankenhaus gebracht wurde, absolut und von da an – meine Erinnerungen an die Zeit vom Beginn des Transportes bis etwa Dienstagabend sind nur bruchstückhaft, und danach überhaupt nicht mehr vorhanden – jedenfalls noch mehr oder weniger autobiographisch; dafür, dass Hahnemann, anders als ich (ich wurde Dienstag Nacht in einer Notoperation noch so gerade eben gerettet) sterben musste, entschuldige ich mich bei ihm!
Ansonsten ist der Roman vollkommen frei erfunden. Das gilt insbesondere auch für die darin vorkommenden Personen, bei denen es sich durchweg um Idealtypen und keinesfalls um ››Abziehbilder‹‹ realer Personen handelt!
Für meine Tochter
Es ist mir eine ganz besondere Freude, verehrte Leser, Ihnen mein erstes Buch – das erste, das ich veröffentlicht habe auf alle Fälle – vorstellen zu dürfen. Dies ist zwar eine Satire, Sie würden Sich aber wundern, wie viele der geschilderten Ereignis sich tatsächlich (fast) genauso abgespielt haben.
Im Strafvollzug gilt grundsätzlich: Der Wahnsinn ist immer und überall!
Jan Zocha
Plötzlich, gegen Ende des Hofgangs, flog eine Strickleiter über die gut 5 Meter hohe Mauer des Gefängniskrankenhauses, genau in der Mitte zwischen den beiden Wärtern, die dort träge – es waren knapp 30 Grad im Schatten – Wache schoben. Ehe sie sich’s versahen sprang Hahnemann von seiner Bank auf und sprintete los.
Die Bank hatte er gezielt ausgewählt, weil sie einerseits eine guten Ausblick auf die Mauer bot und andererseits nicht zu weit von ihr entfernt war; die einzige noch näher zur Mauer gelegene wandte ihr den Rücken zu und war daher ausgeschieden.
Im Krankenhaus war unser Simulant wegen schwerer Bauchkrämpfe , welche allerdings in der Regel gerade mal einen Aufenthalt von ein paar Tagen – zwei-drei Untersuchungen: kein Befund, zurück ins Gefängnis – rechtfertigten... Aber die hatten ja schließlich auch vollauf genügt!
§
Aber halt, ich habe ja die Einleitung ganz vergessen, liebe Leser, ich muss die Geschichte also, zu meinem Bedauern, an dieser Stelle kurz – ganz kurz nur, ich verspreche es! – unterbrechen, denn in diesem Buch enthülle ich in der Tat einen wahren Justiz-Skandal: Ein Gefangener erleidet völlig unnötig (das heißt, all dies hätte sehr leicht verhindert werden können) einen langsamen und äußerst grausamen Tod.
Des Weiteren – als ob das noch nicht schlimm genug wäre! – werde ich im Detail über all die furchtbaren, entsetzlichen, nahezu unaussprechlichen (››grotesk‹‹ wäre ebenfalls eine passende Beschreibung, hier aber wohl etwas pietätlos) Dinge berichten, die das Gefängnissystem – und damit letzten Endes die Justiz insgesamt – danach mit seiner Leiche angestellt hat.
Und wenngleich ich mich damit selbst in höchste Gefahr begebe – ich habe das Buch nicht umsonst als Unterhaltungsliteratur getarnt – , kann ich, ja: darf ich, auf keinen Fall schweigen und damit zulassen, dass der Skandal einfach unter den Teppich gekehrt wird. Auch ein Verstorbener hat ein Recht darauf, würdevoll behandelt zu werden!
Obwohl, nein: gerade weil, so manches in dem Buch in der Tat ziemlich unglaubwürdig erscheinen mag, versichere ich Ihnen, dass absolut alles was ich nun berichte, der Wahrheit entspricht.
Ihnen ein besonderes Lesevergnügen zu wünschen, wäre angesichts des soeben geschriebenen wohl makaber und geschmacklos, erlauben Sie mir daher, Ihnen wenigstens eine interessante und spannende Lektüre zu versprechen.
Nun möchte ich Sie aber auch nicht länger auf die Folter spannen und fahre daher mit der Geschichte fort:
Als Hahnemann fast auf halber Höhe war, erreichte schließlich einer der Wärter die Leiter und rüttelte kräftig daran, damit er herunterfiele. Seine Füße rutschten auch in der Tat von den Sprossen ab und er hing nur noch mit den Händen an der Leiter. Der Wärter versuchte, seine Füße zu packen, um ihn ganz herunterzuziehen. Doch Hahnemann trat ihm mit voller Wucht ins Gesicht, sodass er nach hinten fiel. Der zweite Wärter, der inzwischen herbeigeeilt war, kümmerte sich zum Glück erst mal um seinen Kollegen, sodass Hahnemann die Gelegenheit ergriff und geschwind die Mauer erklomm. Erst als er schon auf der anderen Seite die bereitgestellte Aluminiumleiter herabstieg, begann eine laute Sirene, seine Flucht kundzutun.
››Schnell, hier rüber, Paul!‹‹, rief Rolli, der sich in einigem Abstand im Gebüsch versteckt hielt, und Hahnemann ließ sich nicht lange bitten.
Rolli voraus, rannten sie durch einen kleinen Wald und über eine Weide zu einem abgelegenen Parkplatz. Sie sprangen in den Wagen und Rolli fuhr mit quietschenden Reifen los. Schweigend fuhren sie die Landstraße entlang, indessen Hahnemann die für ihn auf der Rückbank bereitliegende Kleidung anzog. Doch völlig unvermittelt stieg Rolli auf die Bremse und fuhr rechts ran, so weit nach rechts, dass der Wagen vollständig hinter Buschwerk verschwand.
››Was ist los?‹‹, fragte Hahnemann alarmiert.
››Die Bullen.‹‹
››Und jetzt?‹‹
››Keine Ahnung.‹‹
››Da haben wir sowieso keine Chance‹‹, konstatierte Hahnemann. ››Gib mir-n-bisschen Geld, ich steig aus und schlag mich irgendwie alleine durch!‹‹
Rolli reichte ihm wortlos ein Bündel Scheine und ein paar Münzen – es gab ja wirklich keine Alternative – und Hahnemann schlug sich in die Büsche.
§
Das Weitere ist schnell erzählt: Hahnemann schaffte es natürlich nicht, sich alleine durchzuschlagen. Den Rest des Tages und während der Nacht gelang es ihm zwar noch, unentdeckt zu bleiben, doch gleich am folgenden Morgen wurde er auf dem Weg zur nächsten Bushaltestelle – er hatte angenommen, die Polizei hätte die Suche inzwischen aufgegeben – von einem Sonderkommando überwältigt und obwohl er keinerlei Widerstand leistete, schoss ihm einer der Polizisten in Notwehr in den Oberschenkel. Zum Glück war es aber ein glatter Durchschuss, Knochen, Hauptschlagader und Sehnen blieben unverletzt – bloß eine Fleischwunde.
Das Problem ist nur, dass, anders als in Actionfilmen dargestellt, so eine ››bloß eine Fleischwunde‹‹ verdammt weh tut. So ist es kein Wunder, dass der furchtbare Schmerz und der Schock Hahnemann vollkommen benommen machten, und als die Polizisten ihm auch noch eine ordentliche Tracht Prügel verpassten, flüchtete er sich in eine tiefe Dissoziation, das heißt sein Unterbewusstsein versetzte sein Bewusstsein in den ››Standby-Modus‹‹.
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