§
››Und?‹‹, fragte Hahnemann nach der Untersuchung hoffnungsvoll.
››Sie bekommen noch Bescheid‹‹, erwiderte der Neurologe, ohne von dem medizinischen Fachbuch vor sich auf dem Schreibtisch aufzublicken; in der Tat hatte er es bereits aufmerksam studiert, als Hahnemann noch marschiert war (beziehungsweise es wenigstens versucht hatte), und nur gelegentlich zu ihm herübergesehen.
››Na gut, er hat nicht gerade in heller Panik einen Krankenwagen gerufen‹‹, dachte Hahnemann ziemlich enttäuscht, derweil die Wärter ihn wieder zurück in seine Zelle brachten. ››Aber bestimmt holen sie mich bald und ich werde wenigstens ins Gefängniskrankenhaus gekarrt!‹‹
››Und?‹‹, fragte, nun da Hahnemann weg war, auch der Gefängnisarzt.
››Simuliert hundertprozentig, geradezu ein klassischer Fall!‹‹, bestätigte der Neurologe brav die Diagnose seines Kollegen. ››Sehen sie selbst, hier im ICD 10 unter F68.1.: ›Bei Fehlen einer gesicherten körperlichen oder psychischen Störung, Krankheit oder Behinderung,‹ – ich wiederhole: Behinderung – , ›täuscht der Patient häufige und beständige Symptome vor‹, blablabla... ›trotz mehrfach negativer Befunde.‹, blablabla... ›Simulation ist im gerichtlichen und militärischen Umfeld vergleichsweise häufig und im gewöhnlichen zivilen Leben ziemlich selten.‹, Bingo!‹‹
§
Dementsprechend sollte sein Befund auch folgendermaßen lauteten:
Neurologischer Befund
Nicht nackensteif. Hirnnerven regelrecht, insbesondere keine Pupillenstörung, keine Augenmotilitätsstörung, kein Nystagmus, keine Angabe einer Hörstörung, Muskeleigenreflexe seitengleich gut erhältlich, keine spastischen Zeichen.
Keine Paresen.
Sensibilität regelrecht. Koordination regelrecht. Einbeinstand ohne Schwierigkeiten möglich.
Psychisch: Bewusstseinsklar, orientiert, zugewandt, keine kognitiven Einbußen.
Diagnose: Kein krankhafter neurologischer Befund.
gez. Prof. Dr. von Münchhausen
››Soso, wirklich höchst interessant, Herr Kollege.‹‹
››Ja, nicht wahr?!‹‹, triumphierte der Neurologe. ››Hat der Gefängnisdirektor nicht gesagt, dass der Hahnemann noch einen Prozess vor sich hat?‹‹
››Ja schon, wegen Körperverletzung,... hat nem Kollegen ins Gesicht getreten.‹‹
››Sehen sie, da haben wirs ja, der simuliert, um sich vor dem Prozess zu drücken!‹‹, rief der Neurologe aus. ››... Zwar schien er links tatsächlich wesentlich schwächer zu sein als rechts, das hat er aber nur vorgetäuscht – einfach zu inkonsistent! Und dann das Theater mit dem Marschieren, einfach grotesk, da hab-ich wirklich schon bessere Vorstellungen gesehen!‹‹
Der Neurologe fing an zu lachen und Gefängnisarzt und Wärter ließen sich nur allzu bereitwillig davon anstecken. Den Babinskireflex erwähnte er erst gar nicht; Dr. Strobele war etwas beunruhigt, denn er hatte durchaus eine leichte Bewegung links bemerkt... Aber andererseits war der Neurologe ja schließlich ein Facharzt!
Der Gefängnisarzt informierte sofort den Gefängnisdirektor, welcher sich wiederum nochmals mit dem Ministerium in Verbindung setzte, wo er den Ministerialrat noch gerade so eben – er war eigentlich schon aus der Tür – vor Feierabend erwischte.
››Gut‹‹, sagte der jedenfalls zufrieden, ››damit haben wir den Schweinehund bei den Eiern!‹‹
››Ja schon,... ich glaube aber trotzdem nicht, das der so schnell aufgibt...‹‹
››Ich sage ihnen was, der soll uns doch einfach den Buckel runterrutschen, ich mein, lassen sie den doch sein Spiel spielen, solange er will, irgendwann gibt er schon ganz von alleine auf,... die Hauptsache ist doch, das er nichts damit erreicht!‹‹
››Ganz ihrer Meinung, Herr Ministerialrat!‹‹, stimmte der Direktor beflissen zu, doch der Ministerialrat hatte längst aufgelegt.
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Während Hahnemann in seiner Zelle fernsah, ohne allerdings auch nur das Geringste davon mitzubekommen, überzeugt davon, dass doch gewiss jeden Moment der Krankenwagen kommen würde, wurden seine Gliedmaßen immer schwächer und schwächer. Als um 20:00 Uhr immer noch kein Krankenwagen gekommen war, und er den linken Arm fast überhaupt nicht mehr bewegen konnte, ließ er von einem Moment auf den anderen alle Hoffnung fahren und ergab sich fatalistisch in sein Schicksal.
Kurz darauf stand er vom Bett auf, um zur Toilette zu gehen; dabei stellte er, zu seinem gewaltigen Entsetzen, fest, dass sein linkes Bein so schwach war, dass er bald wohl kaum noch vermeiden könnte, zu stürzen. Auf dem circa 50 Zentimeter hohen Bett fühlte er sich auf jeden Fall nicht mehr sicher – zu hoher Fall, wenn es soweit wäre!
Also zog er mit dem rechten, noch einwandfrei funktionierenden Arm seine Matratze vom Bett, einem kalten Betonquader, auf den Boden, in den schmalen Gang zwischen selbigem auf der einen Seite und Tisch und Regal, beide aus Stahl und 5 Zentimeter dicken Pressholzplatten (mittels langer, dicker Schrauben fest im Boden verankert!), auf der anderen Seite. Der Gang war etwas schmaler als die Matratze, sodass diese mit ihren leicht hochgewölbten Rändern fast so was wie ein Nest bildete; Hahnemann platzierte noch eine gefaltete Wolldecke als Kopfkissen auf dem der Tür abgewandten Ende der Matratze. Wenn er nun versuchte, aufzustehen und dabei stürzte, dann auf alle Fälle nicht auf den harten Boden, sondern auf weichen Schaumstoff.
Er schaltete noch das Fernsehgerät an und legte sich in sein Nest; von dort aus konnte er zwar den Bildschirm nicht sehen, aber die Stimmen im Hintergrund beruhigten ihn immerhin.
Sonntag
Als Hahnemann am Sonntagmorgen aufwachte, war sein linker Arm vollständig gelähmt und sein linkes Bein immerhin so schwach, dass er, aus Angst zu stürzen, beschloss, sein Nest nicht mehr zu verlassen,... außer (jedenfalls solange es noch ginge) zum Trinken und um sich zu erleichtern; auch ziemlich starkes Fieber hatte er wieder.
Das Aufstehen bedeutete jedes Mal eine gewaltige Kraftanstrengung und eine entsetzliche Qual! Er hob dazu zunächst jeweils die Beine empor (mit fortschreitender Lähmung schließlich nur noch das rechte) und warf sie dann derart nach vorne, dass er durch den Schwung zum Sitzen kam. Darauf hielt er sich mit der rechten Hand an der Vorderseite des Betonquaders fest, zog die Beine an (das linke eben soweit es ging) und drückte beide Knie durch. So kam er mit der Pobacke auf dem Bett zu sitzen, und wenn er nicht sofort wieder abrutschte und zurück auf die Matratze fiel – in dem Fall ging der Spaß natürlich von vorne los – , dann stützte er sich mit der rechten Hand auf und erhob sich langsam und vorsichtig. Endlich aufrecht stehend, wankte er zur Toilette und danach, damit er nicht unnötig nochmals extra aufstehen müsste, auch gleich zum Waschbecken, um zu trinken; dann wankte er zurück zu seinem Nest und ließ sich, den Rücken selbigem zugewandt, einfach auf die Matratze fallen.
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